Was die Stahlindustrie jetzt braucht, um die Wasserstoffwirtschaft zu skalieren

Gastautor Portrait

Dr. Martin Theuringer

Geschäftsführer, Wirtschaftsvereinigung Stahl

Martin Theuringer ist seit 2003 bei der Wirtschaftsvereinigung Stahl in verschiedenen Positionen beschäftigt: Seit 2006 als Chefvolkswirt und seit 2008 als Leiter des Geschäftsfeldes Wirtschaft zuständig für die Bereiche Wirtschaftspolitik, Konjunkturanalysen, Märkte und Statistik. Im April 2017 wurde er zum Geschäftsführer berufen. Martin Theuringer hat sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Transformation der Stahlindustrie beschäftigt. Er ist seit vielen Jahren Mitglied in verschiedenen nationalen und internationalen Gremien, darunter der Spiegelkreis im Nationalen Wasserstoffrat, dem Fachbeirat des Kompetenzzentrums Klimaschutz in Energieintensiven Industrien (KEI) und ist Mitglied des Vorstands der Stiftung Stahlanwendungsforschung sowie der Forschungsvereinigung Stahlanwendung (FOSTA). Ab Dezember 2023 übernimmt er den Vorsitz des Economic Committee bei Worldsteel. Er hat Volkswirtschaftslehre in Köln und in Kiel studiert und am wirtschaftspolitischen Seminar an der Universität zu Köln zu Fragen der Außenhandelspolitik promoviert. Er hat das Advanced Studies Programme in Kiel absolviert und beim Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München gearbeitet.

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08. November 2023
Shutterstock.com/Kelly Marken

Nicht übersehen werden darf, dass nicht nur grüner Stahl als Produkt in der Zukunft, sondern auch der Weg dorthin mit großen Chancen verbunden ist.

Dr. Martin Theuringer

Grüner Wasserstoff ist für die Stahlindustrie unverzichtbar zur Erreichung der Klimaneutralität. Er wird insbesondere benötigt, um Kohle als Reduktionsmittel abzulösen und Erdgas als Energieträger in den Hochtemperaturprozessen in der Weiterverarbeitung und der Sekundärstahlerzeugung zu ersetzen. Für eine klimaneutrale Stahlproduktion braucht es dabei gewaltige Mengen. Bis 2045 sind es etwa 2,2 Millionen Tonnen (73 TWh), damit am Stahlstandort Deutschland 40 Millionen Tonnen Stahl klimaneutral produziert werden können.

Trotz Energiekrise und ungeachtet der enormen aktuellen wirtschaftlichen und geopolitischen Unsicherheiten macht sich die Stahlindustrie mit großen Schritten auf den Weg, um Produktionsprozesse auf wasserstoffbasierte Verfahren umzustellen. Die Nutzung von Wasserstoff in der Stahlindustrie ist inzwischen keine Zukunftsvision mehr, sondern wird konkret. Erste Förderbescheide liegen vor. Vieles steht jedoch auch am Ende des Jahres 2023 noch aus.

Für die Stahlindustrie ist rasches und entschlossenes Handeln Notwendigkeit und Opportunität zugleich: Notwendig, um trotz steigender CO2-Kosten und auslaufender kostenlosen Zuteilung von Emissionsrechten im internationalen Wettbewerb auch künftig bestehen zu können. Chancenreich, weil sich erst mit grünem Stahl Dekarbonisierungsoptionen für viele nachgelagerte Wertschöpfungsketten eröffnen. Als industrielles Kernprodukt wird Stahl künftig eine noch größere Bedeutung erhalten, als es heute schon der Fall ist.

Nicht übersehen werden darf, dass nicht nur grüner Stahl als Produkt in der Zukunft, sondern auch der Weg dorthin mit großen Chancen verbunden ist. Denn die Transformation der Stahlindustrie strahlt auf viele andere Sektoren aus. Insbesondere steht sie auch in einem engen Zusammenhang zum Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft.  Es war deshalb kein Zufall, dass das Handlungskonzept Stahl[1] und die erste Nationale Wasserstoffstrategie[2] nahezu zeitgleich erschienen sind. Und die neue Nationale Wasserstoffstrategie sollte auch vor dem Hintergrund beurteilt werden, ob sie die Transformation der Stahlindustrie in passender Weise flankiert.[3]

Die Stahl-Transformation ermöglicht den Wasserstoffhochlauf und das Erreichen der Klimaziele

Damit wird die Stahlindustrie voraussichtlich der mit Abstand wichtigste Ankerkunde gerade in der frühen Phase des Wasserstoffhochlaufs werden.

Dr. Martin Theuringer

Positive Spill-Over aus der Stahl-Transformation entstehen für die Wasserstoffwirtschaft dadurch, dass die Stahlindustrie bereits in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre durch die Umstellung ihrer Produktionsprozesse an vergleichsweise wenigen Standorten verlässlich und in großen Mengen grünen Wasserstoff abnehmen kann.

Der Nationale Wasserstoffrat schätzt, dass bis zu 14 Millionen Tonnen an DRI-Produktionskapazität noch in diesem Jahrzehnt in Deutschland aufgebaut und dann mit flexiblen Anteilen von Wasserstoff und Erdgas betrieben werden können. Damit verbunden wäre ein Wasserstoffbedarf von bis zu 850.000 Tonnen pro Jahr (rund 28 TWh).[4] Dies sind 90 Prozent des Bedarfs, der insgesamt in den Prozessindustrien bis 2030 entstehen wird.[5]

Damit wird die Stahlindustrie voraussichtlich der mit Abstand wichtigste Ankerkunde gerade in der frühen Phase des Wasserstoffhochlaufs werden. Mit einer stabilen – und durch die Erdgasoption zugleich flexiblen – Nachfrage schafft sie die notwendige Sicherheit, damit Investitionen in der Erzeugung, bei Importen sowie der Infrastruktur ausgelöst werden können. Und trägt so entscheidend dazu bei, dass H2-Cluster entstehen, H2-Wertschöpfungsketten sich bilden und die Wasserstoffwirtschaft skaliert wird.

Gleichzeitig geht es darum, mit Hilfe von Wasserstoff die Klimaziele zu erreichen. Mit jeder Tonne klimaneutralem Wasserstoff in der Stahlindustrie werden 25-26 Tonnen CO2 vermieden, bezogen allein auf das Verfahren der Direktreduktion sind es sogar 28 Tonnen. Hohe Vermeidungseffizienz in Verbindung mit einem großen Hebel schaffen eine unschlagbare Kombination. Knapp 60 Prozent der Emissionsreduktionen, die durch den Einsatz von Wasserstoff in den Prozessindustrien ermöglicht werden, entfallen auf die Stahlindustrie. Dafür benötigt sie jedoch nur 25 Prozent des eingesetzten Wasserstoffs.[6] Deshalb ist es auch sinnvoll, die Stahlindustrie bis 2030 als Wasserstoffabnehmer zu priorisieren, wie es auch in der neuen Nationalen Wasserstoffstrategie vorgesehen ist.

Worauf es für die Stahlindustrie jetzt beim Wasserstoffhochlauf ankommt

Bei den Unternehmen, gerade auch bei den mittelständischen Elektrostahlunternehmen, bleibt die Unsicherheit jedoch groß, wann und wie Wasserstoff zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung stehen wird.

Dr. Martin Theuringer

Die Umstellung auf eine wasserstoffbasierte Produktion kann kein Unternehmen allein vollbringen. Es bedarf eines funktionierenden industriellen Ökosystems an Partnern, um den Hochlauf zu koordinieren. Und es bedarf eines kohärenten regulatorischen Rahmens. Die Nationale Wasserstoffstrategie, die als Update auf die alte Strategie aufsetzt und eng mit dem Handlungskonzept Stahl aus 2020 verbunden ist, bietet hierfür eine gute Grundlage und zeigt, dass sich vieles in die richtige Richtung bewegt. Jetzt kommt es darauf an, dieses auch umzusetzen und bestehende Lücken zu schließen.

Was ist aus Sicht der Stahlindustrie nun – gerade mit Blick auf den H2-Hochlauf – vordringlich?

Erstens muss die Verfügbarkeitsfrage gelöst werden. Die neue Wasserstoffstrategie hat hier zwar viele Impulse gesetzt mit mehr Ambition bei der Elektrolysekapazität, Bekenntnis zu Importen und Importstrategie, mehr Pragmatismus bei der Farbenlehre und Geschwindigkeit bei der Infrastruktur. Bei den Unternehmen, gerade auch bei den mittelständischen Elektrostahlunternehmen, bleibt die Unsicherheit jedoch groß, wann und wie Wasserstoff zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung stehen wird.

Zweitens steht ein kohärenter Rahmen für die unverzichtbare Anschubfinanzierung noch nicht. Klimaschutzverträge sind zwar in der Vorbereitung, müssen nun für die Stahlindustrie aber auch anwendbar gemacht werden, wie es ja auch im Handlungskonzept Stahl sowie der neuen Wasserstoffstrategie vorgesehen ist. Zudem sind noch Lücken in der bestehenden Förderarchitektur zu schließen. Dies gilt etwa für die Frage, wie langfristige Wasserstoffbezugsverträge abgesichert werden können. Auch bei der Kombinierbarkeit von Förderinstrumenten sowie bei der Wechselwirkung zwischen Infrastrukturanschlüssen und zeitlichen Fristen bei Förderprogrammen bestehen noch Fragezeichen.

Und schließlich muss eine Perspektive für einen funktionsfähigen Markt für grünen Stahl entwickelt werden, um die Anschubfinanzierung abzulösen. Das beinhaltet, dass ein Kennzeichnungssystem für klimafreundlichen und perspektivisch emissionsfreien Stahl eingeführt und mit einer klaren Konzeption zur Ausgestaltung von grünen Leitmärkten verbunden wird. Dabei wird es entscheidend darauf ankommen, Definitionen, Normen und Standards zeitnah auf europäischer Ebene und – so weit möglich – auch in Klimaclubs zu verankern.

Dabei ist mit in den Blick zu nehmen, dass sich die Transformation der Industrie sowie der Hochlauf der Wasserstoffwirtschaft nicht in einem luftleeren Raum vollzieht, sondern die Unternehmen im internationalen Wettbewerb stehen, die Integration in neue Wertschöpfungs- und Energiesysteme im laufenden Betrieb und inmitten einer historischen Energiekrise vorgenommen werden. Dies schafft enorme Herausforderungen. Der Wasserstoffhochlauf wird daher nur erfolgreich sein, wenn es gelingt, die industriellen Wertschöpfungsketten in Deutschland zu erhalten. Die Wasserstoffstrategie der Bundesregierung sollte daher mit der nun vorgelegten Industriestrategie des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz verzahnt werden.

[1] Nationales Reformprogramm 2020 (bmwk.de)

[2] Die Nationale Wasserstoffstrategie (bundesregierung.de)

[3] One-Stop-Shop – Wasserstoff – Die Nationale Wasserstoffstrategie (bmwk.de)

[4] Grundlagenpapier: Treibhausgaseinsparungen und der damit verbundene H2-Bedarf in Deutschland vom 1. Februar 2023 (wasserstoffrat.de)

[5] Nicht berücksichtigt ist hier der bereits bestehende Wasserstoffbedarf in der Chemie, bei dem davon ausgegangen wird, dass dieser bis 2030 noch nicht durch klimaneutralen Wasserstoff gedeckt werden wird.

[6] Grundlagenpapier: Treibhausgaseinsparungen und der damit verbundene H2-Bedarf in Deutschland vom 1. Februar 2023 (wasserstoffrat.de)

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