Priorisieren: Auch beim Klimaschutz

Gastautor Portrait

Hubertus Grass

Kolumnist

Nach Studium, politischem Engagement und Berufseinstieg in Aachen zog es Hubertus Grass nach Sachsen. Beruflich war er tätig als Landesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Prokurist der Unternehmensberatung Bridges und Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden. 2011 hat er sich als Unternehmensberater in Dresden selbständig gemacht.

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23. März 2021

Würde es sich lohnen, den Klimaschutz ernsthaft zu verfolgen, ohne dabei wirtschaftlichen Vorteil zu erringen?

Hubertus Grass

In der Impfkampagne werden die Prioritäten nach Lage und aktuellem Kenntnisstand angepasst. In anderen Krisen tun wir uns schwer damit, von Zeit zu Zeit zu überprüfen, ob die gesetzten Prioritäten noch angemessen und für die vor uns liegenden Aufgaben richtig gewählt wurden. Zum Beispiel beim Klimaschutz.

In kaum einem Beitrag, der erscheint (auch hier auf der Plattform), kaum eine Studie, die herausgegeben wird, wo nicht der Hinweis enthalten ist: Wenn wir jetzt den Klimaschutz in der vorgeschlagenen Weise umsetzen, dann werden wir es zum einen schaffen, die globale Erderwärmung in einem erträglichen Maß zu begrenzen. Und zum anderen werde es uns dann gelingen, wirtschaftlich davon zu profitieren. Die Priorität liegt auf der Hand: „It’s the economy, stupid“ (Bill Clinton).

Würde es sich lohnen, den Klimaschutz ernsthaft zu verfolgen, ohne dabei wirtschaftlichen Vorteil zu erringen? Die Frage stellt niemand. Die Priorisierung, dass erst die Wirtschaft kommt und dann lange nichts, ist Teil unseres kollektiven Bewusstseins. Ohne Wachstum ist alles nichts. Ist das so, oder sollten wir – wie beim Impfen – bei Bedarf über die Prioritäten noch einmal neu nachdenken?

Die große Illusion

Die Masse der Autorinnen und Autoren, die sich in der Energiepolitik für den Klimaschutz einsetzen und Vorschläge unterbreiten, wie sich Klimaschutz und Prosperität verbinden lassen, schüren die Verbreitung einer großen Illusion. Die da lautet: Es kann alles so weitergehen wie gehabt. Fossile Energie wird durch erneuerbare ersetzt und ansonsten wird das Leben so weiter gehen wie gewohnt.

Wir wissen: Das wird es nicht. Denn die Klimakrise ist nur eine von mehreren ökologischen Krisen. Diese Krisen – wie zum Beispiel der Verlust der Biodiversität – verändern die Erde zu einem immer schlechteren Ort für das Leben. Für Insekten und viel andere Spezies hat der Kampf ums Überleben längst begonnen. Auch für immer mehr Menschen wird er zum Alltag. Noch scheint diese dramatische Entwicklung uns nicht zu betreffen. Noch können wir Entschädigungen an die Bauern zahlen, wenn die Ernte wegen extremer Wetterlagen geringer ausfällt. Noch können wir unsere Kaufkraft einsetzen, uns auf den Märkten der Welt zu versorgen.

Unsere wirtschaftliche Potenz nützt nichts, um den Wald zu erhalten. Wir sehen ihm beim Sterben zu. Oder die Folgen der dramatischen Dürre – der schlimmsten seit 2100 Jahren. Kein Kapital der Welt kann unseren Grundwasserspiegel anheben. Völlig machtlos nehmen wir zur Kenntnis, wie Mikroplastik sich auf dem Planeten verteilt und in unsere Nahrungskette eindringt.

Priorisieren: Überleben first

Wenn wir dauerhaft als Spezies über- und vielleicht sogar angenehm leben wollen, müssen wir Abschied nehmen von der Vorstellung, dass eine Transformation unseres Energiesystems allein unsere Probleme lösen wird. Ob wir Stahl auf der Basis von Wasserstoff statt Erdgas kochen, ob wir Zement mit grüner Energie herstellen oder unsere Pkws elektrisch statt mit Verbrenner antreiben, macht nicht den entscheidenden Unterschied. Wir verbrauchen zu viel Stahl und Zement. Die Fahrzeugdichte ist zu hoch und unser Mobilitätsverhalten grundsätzlich nicht kompatibel mit den ökologischen Erfordernissen. Wirtschaftswachstum ist keine Antwort auf die Krisen, die uns herausfordern, sondern Teil der Ursache. Gesicherte Erkenntnis der Forschung ist zudem: Wirtschaftswachstum taugt nicht als Maßstab für Zufriedenheit und Glück in einer Gesellschaft.

Am 22. August diesen Jahres ist Earth Overshoot Day. Das ist der Tag, an dem die Menschheit in 2021 die natürlichen Ressourcen verbraucht hat, die uns die Erde zur Verfügung stellt. Wir in Deutschland übernutzen die Erde stärker als der Durchschnitt der Welt. Es bräuchte zwei Planeten, um unseren derzeitigen Verbrauch an natürlichen Ressourcen zu befriedigen.

Die – wissenschaftlich gut und über viele Jahre dokumentierten – Daten könnten eine Grundlage sein, die Prioritäten neu zu ordnen. Der „Global Risk Report“ 2021 des Weltwirtschaftsforums führt unter den fünf Top-Risiken für die Menschheit vier ökologische an. Das zeigt: Auch in den Führungsetagen der Weltwirtschaft ist die Nachrichten angekommen, dass wir unser Handeln neu ausrichten müssen.

Corona Klimakrise Klimawandel

Marina Weisband zum Thema auf Twitter

Lernen wir etwas aus der Corona-Pandemie?

Die Menschheit ist in extremen Situationen durchaus in der Lage, gewohnte Prioritäten neu zu ordnen.

Hubertus Grass

In der gegenwärtigen Pandemie steht in der generellen öffentlichen Debatte der Überlegungen fast allein das Bemühen, die Pandemie einzudämmen und möglichst Opfer zu vermeiden. Über Monate blieben alle Ferienflugzeuge am Boden bleiben. Die Menschheit ist in extremen Situationen durchaus in der Lage, gewohnte Prioritäten neu zu ordnen.

Corona lehrt uns auch, dass wir globale Krisen nur meistern können, wenn wir als globale Gemeinschaft handlungsfähig sind. Weil eine Virus-Mutation von einem anderen Ende der Welt wenige Wochen später alle unsere bisherigen Anstrengungen in der Vorsorge und beim Impfen zunichte machen kann, müssen wir lernen, global zu denken und zu intervenieren.

Bei der Klimakrise ist es nicht anders. Wenn die größte CO2-Senke auf den Landmassen der Erde, der Amazonas Regenwald, wegen der großflächigen Zerstörung kein CO2 mehr aufnehmen kann, sondern Treibhausgas emittiert, ist nicht nur das Leben in Brasilien bedroht.

Klimaschutz lohnt sich. Auch wenn er sich auf den ersten Blick scheinbar nicht rentiert. Wir müssen neu priorisieren. Unsere ökonomischen Maßstäbe taugen nicht mehr für die Bewertung. Es besteht das Risiko, dass wir die Kreisläufe auf dem Planeten unwiderruflich zerstören. Diese Gefahr muss ins Zentrum unseres Handelns rücken. Wenn wir etwas ärmer werden und den verbleibenden Wohlstand besser verteilen, wäre das ein positiver Nebeneffekt.

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