Infrastrukturen für ein klimaneutrales Energiesystem: Szenarienstudien weisen den Weg

Gastautor Portrait

Prof. Dr. Anke Weidlich

Professorin für Technologien der Energieverteilung, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Anke Weidlich ist Professorin für Technologien der Energieverteilung an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Sie ist Mitglied der Smart Grids-Plattform Baden-Württemberg. Als Co-Leiterin der Arbeitsgruppe „Szenarien für eine klimaneutrale integrierte Energieversorgung und Produktion“ im Projekt ESYS, Energiesysteme der Zukunft beschäftigt sie sich aktuell mit Energieszenarien. Sie studierte Wirtschaftsingenieurwesen sowie Energiewirtschaft und Energiepolitik und promovierte an der Fakultät für Wirtschaftswissenschaften der Universität Karlsruhe, mit Stationen in den USA und an der Universität Mannheim. Anschließend war sie Senior Researcher im Bereich Smart Grids bei der SAP AG und später Professorin für Energiesystemtechnik und Energiewirtschaft an der Hochschule Offenburg.

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19. Oktober 2021

Infrastrukturen sind zentral für die tiefe Transformation der Energiewirtschaft

Deutschland muss noch früher als bisher geplant klimaneutral werden.

Prof. Dr. Anke Weidlich

Seit April diesen Jahres ist klar: Deutschland muss noch früher als bisher geplant klimaneutral werden. Für den hierfür erforderlichen gewaltigen Umbau der Energiewirtschaft ist die Verfügbarkeit der benötigten Infrastrukturen von zentraler Bedeutung. Vor allem vor dem Hintergrund ihrer langen Planungsvorläufe und Lebensdauern sowie der hohen Kapitalintensität ist es erforderlich, vorausschauend zu planen, rechtzeitig die Entwicklung und den Ausbau von Technologien zu fördern und ein geeignetes Investitionsumfeld zu bereiten, in dem die benötigten Infrastrukturen zügig aufgebaut werden.

Seit der wegweisenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, auf die das neue Klimaschutzgesetz mit dem Ziel der Treibhausgasneutralität für Deutschland im Jahr 2045 folgte, sind mehrere große Szenarienstudien erschienen, die Wege zur Erreichung dieses Ziels aufzeigen. Im Folgenden wird kurz dargestellt, welchen Um- und Ausbau von Infrastrukturen drei von ihnen vorsehen. Diese sind die Studien „Klimaneutrales Deutschland 2045“ der Stiftung Klimaneutralität sowie Agora Energiewende und Agora Verkehrswende, „Deutschland auf dem Weg zur Klimaneutralität 2045“ des Kopernikus-Projektes Ariadne und die dena-Leitstudie „Aufbruch Klimaneutralität“.

Die Zukunft ist elektrisch – direkt und indirekt

Allen Studien ist gemein, dass die Stromversorgung mit weiter steigenden Anteilen an erneuerbaren Energien als das Rückgrat des klimaneutralen Energiesystems angesehen wird. Weitere wichtige Energieträger sind (grüner) Wasserstoff und (grüne) synthetische Kraftstoffe, sowie in geringerem Umfang nachhaltig erzeugte Biomasse.

Die direkte Elektrifizierung hat, da sie die verfügbaren erneuerbaren Energien am effizientesten nutzen kann, immer Vorrang vor der indirekten Elektrifizierung über Wasserstoff und synthetische Kraftstoffe. Dies bedeutet, dass von stark steigenden Anteilen elektrischen Stroms an der Endenergiebereitstellung ausgegangen werden kann, und somit insgesamt von einem steigenden Strombedarf. Die ermittelten Werte des Bruttostromverbrauchs im Jahr 2045 liegen in den betrachteten Szenarien zwischen 780 und 1.580 TWh, gegenüber einem Verbrauch von rund 580 TWh im Jahr 2019. Die große Bandbreite lässt sich zu größten Teilen auf unterschiedliche Annahmen in Bezug auf Energieimporte und die Entwicklung der nachfrageseitigen Energieeffizienz zurückführen.

Europäisch gekoppelten Stromnetzen kommt die Schlüsselrolle zu

Als wichtiges Element für die Sicherheit der Stromversorgung wird zudem der Ausbau von Kuppelkapazitäten zu den europäischen Nachbarländern gesehen [...]

Prof. Dr. Anke Weidlich

Auf den erforderlichen Netzbau zur Bewerkstelligung des gestiegenen Strombedarfs geht die dena-Leitstudie detailliert ein. Für das Übertragungsnetz kommt die Studie zu dem Schluss, dass zur Erreichung der Klimaneutralität bis 2045 der im Netzentwicklungsplan Strom (NEP) für 2035 vorgesehene Netzbau noch hinter dem zurückbleibt, was schon im Jahr 2030 notwendig ist, um das Klimaziel zu erreichen. Bis 2045 muss dann sowohl für Onshore- als auch für Offshore-Leitungen jeweils etwa ein Viertel mehr Geld investiert werden als im aktuellen NEP  vorgesehen ist.

Dies erfordert also einen nochmals beschleunigten Ausbau der Übertragungsnetze in Deutschland, der angesichts der langen Planungshorizonte sofort angegangen werden muss. Da bereits der heutige Netzausbau zu langsam voranschreitet, werden in der Studie netzoptimierende Maßnahmen, Redispatch und die systemdienliche Abregelung der erneuerbaren Erzeugung, aber auch die Nachrüstung mit Hochtemperaturseilen und der witterungsabhängige Freileitungsbetrieb als begleitende Maßnahmen vorgeschlagen.

Als wichtiges Element für die Sicherheit der Stromversorgung wird zudem der Ausbau von Kuppelkapazitäten zu den europäischen Nachbarländern gesehen, was vor allem in der Agora-Studie betont wird. Ebenso wird der verstärkte Ausbau von Energiespeichern zur Sicherung der Versorgungszuverlässigkeit vorgesehen, wovon nach Angaben der Agora-Studie mehr Kapazität benötigt wird, wenn das Ziel der Klimaneutralität bereits 2045 und nicht erst 2050 erreicht werden soll.

Im Verteilnetz werden laut dena-Leitstudie die größten Ausbauinvestitionen in der Niederspannung erwartet, wo rund 50% mehr Leitungskilometer bis 2045 benötigt werden als derzeit. Die Ausbauraten im Verteilnetz sind jedoch mit zusätzlichen etwa 1,8% Leitungskilometern pro Jahr in einer ähnlichen Größenordnung wie im vergangenen Jahrzehnt, was gemessen an den gewaltigen anderen Herausforderungen der Energiewende noch vergleichsweise gut machbar erscheint. Allerdings wurde bei den Berechnungen u.a. bereits davon ausgegangen wird, dass Elektrofahrzeuge netzdienlich gesteuert werden können, was verdeutlicht, dass der Erschließung von Flexibilität eine wichtige Bedeutung zukommt. Die hohe Relevanz einer Nutzung von Flexibilität der Stromnachfrage und der Flexibilität aus der Sektorenkopplung wird in allen drei Studien betont.

Wärme und Verkehr erfordern vielfältige Infrastrukturen

Während Wärmepumpen in Gebäuden als wichtigste Technologie zur Wärmebereitstellung in allen Szenarien gesehen werden, spielen auch Wärmenetze als weitere leitungsgebundene und somit infrastrukturintensive Option eine wichtige Rolle. Alle drei Szenarien sehen eine signifikante Steigerung der Neuanschlüsse an die Fernwärme vor, wobei Uneinigkeit besteht, ob die Verbräuche der zusätzlichen Nutzer die Einsparungen durch Sanierungen kompensieren oder der Fernwärmebedarf insgesamt steigt. Neben Großwärmepumpen werden auch wasserstoffbetriebene Kraft-Wärme-Kopplung zur Fernwärmeproduktion gesehen, in jeweils unterschiedlichen Anteilen zwischen den Szenarien.

Um den Verkehr zu elektrifizieren sind neben dem Ausbau der Stromnetze weitere elektrische Infrastrukturen wie Ladesäulen und, gegebenenfalls Trassen für Oberleitungs-LKW erforderlich. Während bei den PKW batterieelektrische Fahrzeuge als dominant angesehen werden, bestehen bei der Dekarbonisierung des Schwerlastverkehrs noch große Unsicherheiten. Oberleitungen für LKW sieht z.B. nur die Agora-Studie als möglicherweise relevantenBeitrag an. Alle Szenarien gehen von einem nennenswerten Einsatz von Wasserstoff für den Schwerlastverkehr aus, was ebenfalls den Aufbau der entsprechenden Infrastruktur erfordert.

Neben der Wasserstoff- wird auch eine CO2-Infrastruktur benötigt

Wenngleich die direkte Elektrifizierung wo immer möglich prioritär vorangetrieben werden muss, spielt auch der Wasserstoff als Energieträger eine wichtige Rolle in einem klimaneutralen System, ebenso wie aus Wasserstoff hergestellte Kraftstoffe. Der Aufbau der entsprechenden Infrastruktur muss vor allem die großen Wasserstoffnachfrager berücksichtigen, was zunächst die schwer dekarbonisierbaren Industrien (v.a. Stahlindustrie und chemische Industrie) sein werden. Auch ein Umbau der Erdgasnetze auf Wasserstoff ist denkbar, erfordert jedoch ein koordiniertes Vorgehen, da alle angeschlossenen Endgeräte gleichzeitig umgestellt werden müssen.

Neben der erforderlichen Wasserstoffinfrastruktur muss auch rechtzeitig eine CO2-Infrastruktur aufgebaut werden, um abgeschiedenes CO2 zu den potentiellen Verwertungszwecken zu befördern. Während dies anfangs noch per Schiff oder LKW erfolgen kann, ist bei den in den Szenarien vorgesehenen Mengen an CO2 durch Bioenergy with Carbon Capture & Storage (BECCS) und Direct Air Carbon Capture and Storage (DACCS) jedoch auch die Errichtung einer europäischen CO2-Pipeline-Infrastruktur erforderlich.

Der Infrastrukturausbau muss zügig voranschreiten

Eine wichtige Erkenntnis, die vor allem in der Ariadne-Studie explizit formuliert wird und auch in vielen weiteren Studien deutlich wird, ist dass aktuelle Infrastrukturplanungen die für ein klimaneutrales Deutschland 2045 erforderlichen Mengen der wichtigsten Energieträger nicht bereitstellen können. Somit muss es eine der wichtigsten Aufgaben der neuen Bundesregierung sein, jetzt die Weichen für eine beschleunigte Ausweitung der Energiewende-Infrastrukturen zu stellen, damit Deutschland seine Klimaziele erreichen kann.

Live beim Debatten-Abend

Prof. Dr. Anke Weidlich wird live beim Debatten-Abend am 20.10. das Thema rund um die Transformation zur klimaneutralen Infrastruktur vertiefen. Mehr dazu inklusive Anmeldelink auf der Veranstaltungsseite. 

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  1. Gerhard Radtke

    vor 2 Jahren

    Ich habe die Debatte live verfolgt und auch die ein oder andere Frage gestellt und teilweise beantwortet bekommen. Ich werde auch an der nächsten Debatte teilnehmen und wieder Fragen stellen in der Hoffnung, dann doch etwas konkretere Antworten zu bekommen.

    In einem stimme ich Herrn Franke (BNetzA) jedoch zu. Es liegt noch deutlich mehr vor uns im Vergliech zu dem,was bislang erreicht wurde.

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