Wie steht es mit der Generationengerechtigkeit im Zuge der neu entfachten Kernkraft-Diskussion?

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Helena Sicko

Kommunikationsmanagerin, Netze BW

Helena Sicko arbeitet als Kommunikationsmanagerin bei Netze BW. Während eines Auslandssemesters im Zuge ihres Masterstudiums an der Hochschule Pforzheim berichtete sie Ende 2020 als Energie-Reporterin über Energie- und Nachhaltigkeitsthemen aus Frankreich. Während ihres Studiums legte sie einen Schwerpunkt auf Nachhaltigkeitskommunikation und unternehmerische Verantwortung und engagierte sich in verschiedenen Initiativen. Privat interessiert sie sich vor allem für verantwortungsvollen Konsum und nachhaltige Infrastruktur.

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14. März 2022

Die wiederauflebende Debatte um eine mögliche Verlängerung des Kernkraftbetriebes in Deutschland [...] ist paradox.

Helena Sicko

Die Option, die Stromversorgung in Deutschland vorerst weiter durch Kernenergie zu sichern, ist so real wie schon lange nicht mehr. Versorgungssicherheit bei niedrigem Emissionsausstoß – eine Verschiebung des Atomausstiegs mag zunächst reizvoll klingen, ist jedoch eine Absage an nachfolgende Generationen.

Erst kürzlich präsentierte die Europäische Kommission ihre EU-Taxonomie, welche Erdgas und Kernenergie als nachhaltige Formen der Energiegewinnung einstuft und in diesen Bereichen somit den Weg für hohe Investitionen ebnet. Für Deutschland ist dies ein zweischneidiges Schwert: Einerseits befürwortete man Gas als Brückentechnologie auf dem Weg zur vollständig erneuerbaren Energieversorgung, andererseits zählt sich die Bundesregierung bekanntermaßen zu den Kritikern der Kernenergie: Gas? Ja! Atomkraft? Nein, danke!

Vor knapp zwei Wochen folgte dann der Eklat, der die Debatte um die Kernenergie in eine neue Runde katapultierte: Mit dem Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine änderte sich nicht nur die europäische Sicherheitspolitik, auch bisherige Maximen der Energiepolitik werden erneut auf den Prüfstand gestellt. Die beschlossenen Sanktionen gegen Russland lassen bereits wenige Tage nach Beginn des Krieges, die Energiepreise in die Höhe schnellen. Ferner drohen Engpässe in der Gasversorgung, welche bis dato größtenteils durch den Handel mit Russland sichergestellt war.

Wie steht es nun also um unsere Versorgungssicherheit, wenn Erdgas keine sichere Energiequelle mehr darstellt? Befeuert die Situation den längst überfälligen Schritt zum schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien? Oder schleicht sich tatsächlich eine Option zurück in die Debatte, welche vor dem Ukrainekrieg noch als beinahe unwiderruflich galt: Eine Verschiebung des geplanten Atomausstiegs bis Ende des Jahres.

Atomkraftfreundliche Länder wie Frankreich, Großbritannien oder Finnland, die mit der EU-Taxonomie nun ganz offiziell die „license to operate“ für massive Investitionen in den Ausbau der Kernenergie erhalten haben, sehen sich angesichts der aktuellen Lage in ihrer Position bestätigt. Mit Atomenergie sei man nicht von Handelspartnern wie Russland abhängig und produziere außerdem wenig bis kaum schädliche Treibhausgase.

Die wiederauflebende Debatte um eine mögliche Verlängerung des Kernkraftbetriebes in Deutschland – ausgerechnet zu einer Zeit, in der die Nachrichten die Angst um eine Nuklearkatastrophe in der Bevölkerung immer größer werden lassen – ist paradox. Einerseits verbindet man mit den Worten „nuklear“ oder „Atom“ aktuell angsterfüllte Horrorszenen, gleichzeitig beschreiben sie in anderem Kontext eine diskutierte Option der vermeintlich sicheren Energieversorgung. In der Not frisst der Teufel Fliegen, doch ist es wirklich zeitgemäß, in puncto Versorgungssicherheit weiter auf eine Technologie zu setzen, die je nach Einsatz Energieträger oder Kriegswaffe zerstörerischsten Ausmaßes sein kann?

Expert*innen warnen vor fehlender Resilienz von AKWs im Zuge der Klimakrise

Wirft man einen etwas rationaleren, weniger von Schreckensszenarien geprägten Blick auf die Argumente für und gegen Atomkraft, so zeichnet sich dennoch ein eher unausgewogenes Bild. Vertreter*innen der Zivilgesellschaft sowie Klima- und Umweltexpert*innen sehen abgesehen vom emissionsärmeren Betrieb kaum Argumente zu Gunsten der Atomkraft: Die Wissenschaftsbewegung „Scientists for Future“ nennt in ihrem Diskussionsbeitrag zum Thema Kernenergie und Klima neben dem schier unendlichen Gefahrenpotenzial vor allem die fehlende Wirtschaftlichkeit als wesentliches Argument gegen die Kernenergie. Außerdem sei sie im klimabedingten Wettlauf gegen die Zeit nicht schnell genug und gegenüber Transformationen zu resistent.

Der Weltklimarat (IPCC) führt außerdem in seinem jüngsten Bericht an, dass die Folgen des Klimawandels – etwa steigende Wassertemperaturen, zunehmende Austrocknung von Gewässern und drohende Naturkatastrophen – verheerende Konsequenzen für die Sicherheit von Atomreaktoren oder der Lagerung von Atommüll haben können. Auch die Internationale Atomaufsichtsbehörde (IAEA) räumt ein, dass die nukleare Sicherheit durch klimatische Veränderungen und daraus folgende Naturkatastrophen beeinflusst werde.

Atomkraft auf Kosten nachfolgender Generationen

Solange Atomkraft in der Energieversorgung eine Rolle spielt, bleibt die Sorge um Angriffe auf radioaktives Material [...]

Helena Sicko

Orientiert man sich an der bekannten Definition nachhaltiger Entwicklung, wie sie im Brundlandt-Report von 1987 erstmals Verwendung fand, wird deutlich, dass die intergenerationelle Gerechtigkeit bei der Kernenergie nicht gegeben ist: Der Energieberater Mycle Schneider befürchtet beispielsweise, dass Subventionen für die Atomenergie notwendige Investitionen in den Ausbau erneuerbarer Energien blockieren könnten. Jeder Cent, der jetzt in die Atomkraft gesteckt wird, fehlt bei den Erneuerbaren.

Doch der mit Abstand größte Faktor, welcher der Kernenergie die generationengerechte Nachhaltigkeit abspricht, ist ganz klar die ungelöste Endlagerfrage. Atommüll soll in bislang ungewissen Endlagern bis zu einer Million Jahre aufbewahrt werden. Dies würde mehr als 30.000 Generationen betreffen. In Zeiten, in denen kaum weiter als bis zum nächsten Quartal geplant werden kann, erscheint dies völlig absurd.

Neben den immensen Kosten, die durch die Wartung von Endlagern auf zukünftige Generationen zukommen werden, darf eines nicht vergessen werden: Was aktuell in der Ukraine passiert, zeigt, dass Energieversorgung Friedenssache ist. Solange Atomkraft in der Energieversorgung eine Rolle spielt, bleibt die Sorge um Angriffe auf radioaktives Material, sei es Atommüll, Reaktoren oder gelagerte Nuklearwaffen – und dies auch noch weit über den bevorstehenden Atomausstieg hinaus.

Für die junge Generation ist die Debatte um eine mögliche Kernkraft-Renaissance in zweierlei Hinsicht enttäuschend: Neben den immer spürbarer werdenden Auswirkungen der Klimakrise sollen nachfolgende Generationen weiter die Lasten tragen, die mit den Kosten und vor allem der Sicherheit bei der Verwahrung radioaktiver Abfälle verbunden sind. Gleichzeitig zeigt sie erneut die Dringlichkeit dessen, wofür Millionen junger Menschen auf der ganzen Welt regelmäßig auf die Straße gehen: Einen schnelleren Ausstieg aus fossilen Brennstoffen und einen schnelleren Ausbau erneuerbarer Energien.

Wie es der Titel einer Kolumne des WDR von Anfang Januar treffend formulierte: Das Atom spaltet. Atomkraft-Befürworter wittern in der aktuellen Diskussion eine Chance, andere fürchten um das lang ersehnte Ende der Atomkraft-Ära. Einige Stimmen sehen in der Frage eine Pseudo-Debatte, die längst entschieden ist. Es hat sich in den vergangenen Wochen jedoch gezeigt, dass Regierungen ihren Kurs sehr schnell ändern können. Es bleibt zu hoffen, dass kurzfristige Notsituationen keine Entschlüsse ins Wanken bringen, deren Konsequenzen wir noch viele tausend Jahre zu tragen hätten.

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