Ist der Klimawandel bereits eine Klimakrise?

Gastautor Portrait

Hubertus Grass

Kolumnist

Nach Studium, politischem Engagement und Berufseinstieg in Aachen zog es Hubertus Grass nach Sachsen. Beruflich war er tätig als Landesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Prokurist der Unternehmensberatung Bridges und Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden. 2011 hat er sich als Unternehmensberater in Dresden selbständig gemacht.

weiterlesen
21. Juni 2021

Vor zwei Jahren habe ich an dieser Stelle, die Indikatoren vorgestellt, die auf einen sich beschleunigenden Klimawandel hindeuten. Es ist Zeit für ein Update. Der aus dem ZDF bekannte Meteorologe Özden Terli, Mitglied des Kuratoriums unserer Stiftung, spricht schon seit längerem von einer Klimakrise statt vom Klimawandel. Unter dem Hashtag #klimakriseISTJETZT postet er bei Twitter aktuelle Daten und Forschungsergebnisse und reflektiert die politischen Auseinandersetzungen. Hat die begriffliche Verschärfung vom Wandel zur Krise ihre Berechtigung? Worauf stützen Özden Terli und andere Fachleute ihre Aussagen?

Eine eisfreie Erde?

Die deutschen Gletscher sterben. Früher ging die Klimawissenschaft davon aus, dass die fünf verbliebenen deutschen Gletscher wahrscheinlich bis 2050 durchhalten werden. Da der Temperaturanstieg in den Alpen über dem globalen Durchschnitt verläuft, werden die deutschen Alpen bereits 2030 eine gletscherfreie Zone sein. Die Folgen sind dramatisch. Die Gletscher sind von Bedeutung für die Trinkwasserversorgung der Bevölkerung, sie speisen im Sommer Bäche und Flüsse mit Wasser.  Weil auch der – nicht sichtbare Permafrost im Innern der Berge schmilzt, drohen Felsstürze und Murenabgänge. Wer noch einmal den höchsten deutschen Berg, die Zugspitze, sehen will, sollte sich daher beeilen. Trotz umfangreicher Sicherungsmaßnahmen könnte es mit der touristischen Pracht bald vorbei sein.

Auch das „ewige Eis“ auf Grönland schwindet mit zunehmender Beschleunigung.  250 Milliarden Tonnen beträgt der Verlust pro Jahr. Berechnungen deuten daraufhin, dass das Eis der Arktis doppelt so schnell schmilzt wie bisher angenommen.

Ähnlich sieht es in der Antarktis aus, wo sich die Eismasse um  etwa 150 Milliarden Tonnen pro Jahr reduziert. Der Rückgang führt in einer Dekade zu einem Anstieg des Meeresspiegels um 11 Millimeter. Ein soeben erschienener Forschungsbericht von Polar Perspectives kommt zu dem Schluss, dass die Störung der Systeme den globalen Klimawandel bereits in naher Zukunft überproportional verstärken und das empfindliche Gefüge des Lebens im Südpolarmeer stören könnte. Dies würde sich auf die Resilienz der Küstenregionen und die Lebensbedingungen von Menschen weltweit auswirken. Weniger Eis- und Schneeflächen führen zu einem weiteren Anstieg der Temperaturen. Weiße Flächen reflektieren das Sonnenlicht, graue absorbieren es. Wegen dieses „Albedo-Effektes“ ist der globale Rückgang des Eises ein wahrer Teufelskreislauf. Die Klimaforscher nennen solche, den Klimawandel verstärkenden Momente Tipping-Points. Die Erde hat seit 1994 insgesamt 28 Billionen Tonnen Eis verloren. Derzeit liegt die Verlustrate bei 1,2 Billionen Tonnen pro Jahr. Damit verläuft der Prozess im Rahmen des Worst-Case-Szenario des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC).

Während der Arbeit an diesem Beitrag berichtete die Leitung der MOSAIC-Expedition, die ein ganzes Jahr lang in der Arktis unterwegs war, über die ersten Ergebnisse ihrer der Messungen.  Die Forscher  haben im Winter zehn Grad Celsius Lufttemperatur (!!) mehr gemessen als zu Zeiten Nansens, dem Nestor der  Polarforschung, der sich Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Eis treiben ließ. Keine andere Region auf der Erde erwärmt sich schneller.

Wälder, die keinen Kohlenstoff speichern, sondern emittieren

Moore und Wälder zählen zu den großen CO2-Speichern der Erde. In der Schule haben wir gelernt, dass Bäume das CO2 aus der Luft verwerten. Sie trennen Kohlenstoff (C) und Sauerstoff (O2). Den Kohlenstoff binden sie im Holz, den Sauerstoff geben sie wieder ab  und schenken ihn uns und den anderen Lebewesen. Leider ist es mit der Dankbarkeit von uns Menschen aber nicht weit her.  Als größte Kohlenstoffsenke unter den Wäldern galt bisher der Amazonas Regenwald. Doch immer größere Teile fallen davon werden gerodet. 2019 waren es rund 3,9 Millionen Hektar – eine Fläche so groß wie die Niederlande. Im August 2019 wurden 6.668 Brandherde im Amazonasgebiet gezählt.

Kaum einer der verbliebenen Regenwälder auf der Erde ist frei von direkten menschlichen Eingriffen.  Darüber hinaus  macht der Klimawandel selbst den Wäldern zu schaffen. Ihre Fähigkeit, CO2 aufzunehmen, nimmt ab. Zu diesem Ergebnis kommt eine Langzeitstudie. Während vor 30 Jahren die tropischen Regenwälder in Südamerika und Afrika rund 46 Milliarden Tonnen CO2 aus der Luft aufnahmen, sind es derzeit nur noch 25 Milliarden Tonnen. Als Ursache vermuten die Forscher Hitze und Trockenheit, die offenbar nicht den heimischen Wäldern zu schaffen machen. Die Wälder verlieren damit einen Teil ihrer Pufferwirkung und tragen so wiederum zum Anstieg des Treibhauseffektes bei.  Der wiederum die Abwehrkräfte der Wälder schwächt.

Kommen die Weltmeere in eine Krise?

Das Meer stirbt sehr langsam und meist ohne mediale Begleitung.

Hubertus Grass

Die Zunahme der Eisschmelze treibt einen Prozess an, der die Zirkulation des Wassers im Atlantik verlangsamt. Denn es entsteht Süßwasser. Die große Pumpe des Golfstroms, der durch die  Unterschiede in Temperatur und Salzgehalt angetrieben wird, verliert an Kraft. In der Folge wird Wärme aus den Tropen in die mittleren Breiten und Polarregionen transportiert. Weil das Meer insgesamt wärmer wird (es hat einen Teil des globalen Temperaturanstiegs gepuffert) und auch (durch die CO2-Einträge) saurer wird, geraten die Ökosysteme unter Stress. Weithin bekannt ist das einsetzende Korallensterben. Aber auch andere Lebensräume ändern sich dramatisch. Korallen, Muscheln oder Krebse und andere kalkbildende Meereslebewesen kommen schon mit dem bisherigen Absinken des ph-Wertes um 0,1 kaum zurecht.

Bilder und Berichte vom „Schleim im Marmara-Meer“ machten dieser Tage die Runde in den Medien. Der Schleim wird verursacht von Algen und Kleinorganismen, die sich durch die Verschmutzung des Wassers und die steigenden Temperaturen expotentiell vermehren. Das Marmara-Meer ist bereits ca. 2,5 Grad wärmer geworden. Ähnlich wie ein Binnensee im Hochsommer, dem Mangels Regen der Sauerstoff ausgeht und bei dem die Hitze das Algenwachstum antreibt, kann auch ein Meer umkippen. Der Schleim vor Istanbul hat eine breite internationale Medienwirkung ausgelöst. Ähnliche Prozesse wie im Marmarameer laufen auf allen Weltmeeren ab. Die Ausbreitung von sauerstoffarmen (Todes-) Zonen hat seit 1970 laut Angaben des IPCC um 8 Prozent zugenommen. Das Meer stirbt sehr langsam und meist ohne mediale Begleitung.

Klimawandel, Klimakrise – Klima-Domino

Was soll das ganze Gerede über eine mögliche Krise? Wir haben ja schließlich das Pariser Klimaabkommen. Und wenn wir den Zielwert („Anstieg der globalen Mitteltemperatur deutlich unter 2° begrenzen“) einhalten, sollten wir die Sache in den Griff bekommen. Könnte man meinen. Ist aber nicht so.

Das Klimageschehen ist eine hochkomplexe Wechselwirkungskette. Das Pariser Ziel  folgte der Empfehlung der Klimaforschung und dem damaligen Stand des Wissens. Jüngste Forschungen zeigen, dass auch im Zielbereich des Pariser Abkommens immer noch ein erhebliches Risiko besteht, kaskadierende Tippingspoints auszulösen. Es ist wie bei einem Dominospiel. Fällt ein Stein, könnte der ganze schöne Aufbau perdu sein.

Die aktuelle Studie zeigt,  dass dieses Risiko bei Berücksichtigung von Wechselwirkungen zwischen den zentralen Klimakippelementen deutlich ansteigt. Diese Wechselwirkungen wirken dabei tendenziell insgesamt destabilisierend. Anders ausgedrückt: Die Wahrscheinlichkeit, dass die Krise schon da ist, ist hoch. Die Wahrscheinlichkeit, irreversible, das Leben auf dem Planeten schädigende Prozesse in gang zu setzen, wächst mit jedem Tag, den wir untätig der weiteren Entwicklung zusehen.

Sicher ist, die CO2-Konzentration in der Atmosphäre war seit 4,5 Millionen Jahren noch nie so hoch wie heute. Zur Einordnung: Homo sapiens bewegt sich seit ca.200.000 Jahren auf der Erde. Homo sapiens hat in diesen 200.000 Jahren keinen nennenswerten Einfluss auf die Zusammensetzung der Luft genommen. Erst vor ca. 200 Jahren fing er damit an. Damals lag der CO2-Gehalt bei 280 ppm (parts per million). Zum Zeitpunkt der Geburt des Autors, als der junge Chemiker Charles Keeling begann, die Zusammensetzung der Atmosphäre zu messen, war er bereits auf 315 Teile angestiegen. In diesem Jahr, 16 Monate nach Ausbruch einer die Wirtschaft schwächenden Pandemie, gibt es wieder einen Rekord zu verzeichnen:  419,13 CO₂-Moleküle pro eine Million Luftmoleküle. Die Dominosteine wackeln.

Klimawandel, Klimakrise, Klimaschutz - hier gibt's wissenschaftliche fundierte Infos

Nachfolgend einige wenige annotierte Links zu den Seiten, die den Stand der aktuellen Forschung verlässlich spiegeln und auch für Laien gut verständlich sind:
  • Die World Weather Attribution (WWA) ist eine internationale Initiative, die den möglichen Einfluss des Klimawandels auf extreme  Wetterereignisse wie Stürme, extreme Regenfälle, Hitzewellen, Kälteperioden und Dürren analysiert und kommuniziert.https://www.worldweatherattribution.org/
  • In der Klimalounge bei Spektrum Wissenschaft schreibt Prof. Stefan Rahmstorf vom Potsdamer PIK. Er stellt sich auch im Spiegel und in den sozialen Medien der verdienstvollen Aufgabe, den zahlreich kursierenden Fake News zum Klimawandel entgegen zu treten.  https://scilogs.spektrum.de/klimalounge/
  • Bei Scienexx in der Rubrik Geowissen erscheinen in unregelmäßigen Abständen Berichte mit gut aufgearbeiteten Forschungsergebnissen. https://www.scinexx.de/geowissen/
  • Die Zeitung, die wahrscheinlich weltweit das beste, weil fundiert und umfassend, Angebot zu diesen Themen macht, ist der britische Guardian. https://www.theguardian.com/environment/climate-change
  • www.Klimafakten.de bietet genau das, was der Name der Seite verspricht: Zuverlässige Fakten zum Klimawandel und seinen Folgen. Hier erführt man auch, wie man über das Thema kommuniziert.

Diskutieren Sie mit

Ich akzeptiere die Kommentarrichtlinien sowie die Datenschutzbestimmungen* *Pflichtfelder

Artikel bewerten und teilen

Ist der Klimawandel bereits eine Klimakrise?
5
2