Dieser Text wird Sie herausfordern und Sie werden ihn vielleicht nicht in einem Zuge lesen. Darum markieren Sie sich den Link. Denn Sie werden den Text später noch einmal lesen wollen. Meine Empfehlung: Denken Sie über den Text nach, sprechen Sie mit Bekannten darüber und probieren Sie die drei Tipps auch aus.
Ich bin eingeladen, Sie zum energiepolitischen Ausblick zu beraten. Damit Sie neugierig in die Zukunft blicken, vielleicht sogar einen energiepolitischen Blick bis 2030 wagen, dazu möchte ich Ihnen das Rüstzeug auf den Weg geben. Doch wer bin ich eigentlich – und wer sind Sie? Die Antwort ist: Wir sind uns vermutlich sehr ähnlich. Sie haben eine akademische Ausbildung? Sie haben etwas solides mit Zahlen studiert und kennen sich auch mit Technik aus? Sie haben früh angefangen, Infrastruktur-Projekte zu leiten? Sie haben weit über ein Jahrzehnt Erfahrung als Führungskraft? Sie kennen viele andere Führungskräfte schon seit Langem und auch persönlich? Sie tauschen sich unter Gleichgesinnten darüber aus, welche Entscheidungen Sie treffen? Sie kennen die Branche und die Gestaltungsspielräume? Ja, das geht mir auch so und das trägt zu den Herausforderungen bei, mit denen wir uns auseinandersetzen müssen. Sie und ich sollten das tun und zwar sehr bald.
Erstens: Sprechen Sie mit Menschen, die extrem skaliert haben.
Sie und ich haben keine Vorstellung, wie der rasante Wechsel zu Klimaneutralität funktionieren kann [...]
Das haben Sie vermutlich selbst selten oder nie gemacht – und zwar beides: Sie haben aller Wahrscheinlichkeit nach nicht extrem skaliert und Sie haben sich auch nicht die Mühe gemacht, mit darin erfahrenen Menschen zu sprechen, richtig? Darum nehmen Sie sich einen Tag Zeit und recherchieren: Welches Unternehmen in Ihrer Stadt hat den Umsatz in den letzten Jahren am stärksten vervielfacht? Welcher Betrieb hat die Anzahl der Beschäftigten extrem erhöht? Welche Firma hat plötzlich ein Vielfaches an Kunden im Vergleich zu vor wenigen Jahren? Sprechen Sie mit diesen Menschen über deren Geschäft. Sie werden sehen, wie Ihre eigene Vorstellungskraft wächst. Denn sind wir mal ehrlich: Sie und ich haben keine Vorstellung, wie der rasante Wechsel zu Klimaneutralität funktionieren kann, obwohl wir wissen, dass Klimaneutralität notwendig ist. Aber andere Menschen in Ihrer Stadt haben eine Vorstellung von großen Dynamiken. Und sei es „bloß“ in einem ganz anderen Bereich wie bei einem stark wachsenden Gastro-Franchise oder beim ungezügelten Aufbau von Serverfarmen. Sie können von diesen Menschen lernen, große Dynamiken zu antizipieren und wie gestern Unvorstellbares heute doch gelingen kann. Dieser Impuls wird Ihnen und Ihrer Vorstellungskraft gut tun.
Zweitens: Umgeben Sie sich häufiger mit Menschen, die erheblich jünger als Sie sind.
Klar, Sie und ich leben in unseren akademisch-bürgerlichen Komfortzonen – wer sagt, bei mir habe der Biedermeier eingesetzt, dem kann ich schlecht widersprechen. Wann haben Sie sich denn mal wirklich der Weltsicht kompetenter jüngerer Gruppen ausgesetzt? Damit meine ich nicht, mit drei Vorstandskollegen eine Auszubildende auszufragen oder mit Ihrem Wissensvorsprung Ihre Kinder oder gar ein Enkelkind in ein Gespräch zu verwickeln. Nehmen Sie sich einen Tag Zeit und recherchieren Sie: Können Sie die zehn jüngsten Beschäftigten von Roland Berger oder McKinsey aus Ihrer Stadt zum Gespräch einladen? Gibt es eine studentische Unternehmensberatung in Ihrer Stadt? Wo finden Sie sehr junge High-Performer, auf die Sie zugehen können? Wichtig bei all diesen Treffen: Sie selbst stehen nicht im Mittelpunkt, am besten reden Sie gar nicht, sondern lassen die Gruppe miteinander diskutieren, wie die Welt in Zukunft aussehen wird. Sie werden sehen, dass die nächsten Generationen ganz andere Standards voraussetzen, die die Welt prägen werden. Das Streben nach Klimagerechtigkeit dürfte einer davon sein. Und dann fragen Sie sich: Ist Ihr Geschäftsmodell diesen neuen Standards gewachsen?
Drittens: Stellen Sie in Gedanken die Welt auf den Kopf - gäbe es einen Weg zurück?
Gibt es wirklich gute Argumente, jemanden für den Benziner zurück zu gewinnen?
Das ist eine meiner Lieblings-Übungen, probieren Sie es mal. Nehmen wir an, alle Menschen fahren elektrisch: Gibt es wirklich gute Argumente, jemanden für den Benziner zurück zu gewinnen? Wenn Sie jetzt „Ja“ antworten, dann sprechen Sie bitte erst einmal mit Menschen, die seit Monaten elektrisch fahren, ob diese Argumente ziehen. Gleiches gilt für Menschen, die sich an selbst erzeugten PV-Strom auf dem eigenen Dach, den Komfort von Wärmenetzen oder eine stärker pflanzlich orientierte gesunde Ernährung gewöhnt haben. Mit welchen Argumenten könnten Sie diese Menschen aus der neuen Welt für die alten Muster zurückgewinnen – und wäre das Werben wirklich erfolgversprechend?
Viele, die diese „neue“ Welt noch nicht erlebt haben und die sich untereinander darüber unterhalten, warum das Neue nicht geht, finden Argumente, warum sich die „neuen“ Geschäftsmodelle oder Verhaltensweisen nicht durchsetzen werden. Drehen Sie auch das einmal um und fragen Sie mal nicht nach den Risiken der neuen, sondern nach den Risiken der alten Technologien und Geschäftsmodelle – Preisrisiken, Abhängigkeiten, laufende Kosten. Würden Sie diese alten Technologien heute einführen wollen, wenn es sie noch nicht gäbe? Und würden Sie dafür die Finanzierung erhalten? Mein Tipp: Fragen Sie vor allem bei den Stillen und Introvertierten nach, was dagegen spricht, dass die traditionellen Pfade weiter funktionieren. Klar, die Lauten bügeln über die Risiken hinweg – darum hören Sie lieber den Stillen zu, die Geschäftsrisiken viel besser erfassen und identifizieren und zwar auch bei laufenden Aktivitäten. Wenn Sie also aus einer Welt der Zukunft auf Ihre heutigen Produkte, Projekte und Dienstleistungen blicken: Wirken Ihre Angebote dann noch zeitgemäß, um Kunden dafür zu gewinnen?
Von der Passivität zur Aktion: Denken Sie in großen Schritten
Wenn Sie bis hier gelesen haben, vielen Dank. Ich freue mich, wenn Sie Impulse suchen – nicht nur in diesem Text, sondern auch in echt mit den Change Agents in Ihrer Stadt, die ihr Geschäft rasant skalieren konnten, mit den kompetenten Jüngeren und mit den Stillen und Introvertierten. So öffnen Sie Ihren Blick, öffnen Sie Ihre Vorstellungskraft für einen sehr schnellen Weg in eine Welt der Zukunft, mit neuen Standards, die Klimagerechtigkeit und Erneuerbaren den Durchbruch bringen. Und wenn alles nur in diese eine Richtung hin zu Erneuerbaren und Klima-Technologien geht, dann überlegen Sie sich lieber sehr bald, dass Sie mitgestalten wollen – dazu müssen wir alle nämlich viel lernen, zum Beispiel den Mut, in großen Veränderungsschritten zu denken. Und wenn Sie Bedenken haben und sich nicht so stark in die Veränderungen trauen, dann lassen Sie sich gesagt sein: Die Realität richtet sich nicht nach Ihren Bedenken. Sie können dabei sein oder bremsen, aber die Zukunft kommt so oder so. Also blicken Sie lieber gestärkt und neugierig in die Zukunft und gestalten sie mit. Bis 2030 müssen wir die größten Schritte erledigt haben. Ich wünsche Ihnen und uns allen viel Erfolg dabei.
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