Elektromobilität bei leichten Nutzfahrzeugen – die „Schonfrist“ geht zu Ende

Gastautor Portrait

Prof. Dr. Werner Olle

Direktoriumsmitglied des Chemnitz Automotive Institute (CATI)

Langjährige Erfahrung in der Automobil- und Zulieferindustrie als Unternehmensvorstand und Logistik-Manager. Deutscher Logistik-Preis 1998 mit der VW Sachsen GmbH für das Konzept ‘Produktion in Partnerschaft’, Mitwirkung bei der zweimaligen Auszeichnung mit dem elogistics Award für innovative Steuerungstools mit den Firmen Logis (2009) und Carnet (2013). Mitbegründer der Innovationsplattform FutureFab. Honorarprofessor an der Staatlichen Studienakademie in Sachsen. Fotoquelle: MediaLoge

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08. Juni 2021
Bild: TROPOS Motors

Leichte Nutzfahrzeuge (zulässiges Gesamtgewicht bis 3,5 t) dominieren mit einem Anteil > 80 % den europäischen Nutzfahrzeugmarkt. Durch den zunehmenden Trend zur Urbanisierung, das Wachstum des Online-Handels und die Zunahme kleinerer Sendungsgrößen (Fraktalisierung der Ladung) wird auch künftig der Bedarf an leichten, agilen und für städtische Lieferverkehre geeigneten Fahrzeuge weiter zunehmen.

Bislang ist in diesem Marktsegment in Europa der Diesel-Antrieb mit einem Marktanteil von > 90 % marktbestimmend und Elektrofahrzeuge fristen immer noch ein Nischendasein. Und dies bei Fahrzeugen, die in hohem Maße Bestandteil urbaner Mobilität sind. Was sind die Ursachen für diesen Stillstand und wo geht die Reise in den nächsten Jahren hin?

Besonderheiten des Marktes für leichte Nutzfahrzeuge

Quelle: AL-KO Fahrzeugtechnik

Im Vergleich zum PKW-Segment verfügt der Markt für leichte Nutzfahrzeuge über eine Reihe von Besonderheiten.

Zum einen haben für die Nutzer (Handel, Dienstleistungen, Instandhaltung/ Reparaturen, Baugewerbe) wirtschaftliche Kriterien höchste Priorität. Diese werden durch mehrere Parameter bestimmt: Anschaffungspreis/Betriebskosten, Nutzraum/Nutzlast, Nutzungsdauer, Reichweite, Infrastrukturen. Daraus abgeleitet und in Verbindung mit Stückzahlen, die deutlich geringer als im PKW-Segment sind, resultiert für den Markt der leichten Nutzfahrzeuge eine hohe Preissensitivität.

Zum andern ist die Nutzung leichter Nutzfahrzeuge in überragendem Maße durch Spezialisierung/Individualisierung geprägt. Dies kommt insbesondere bei den Aufbauten zum Ausdruck, die zu > 90 % auf Nutzer-spezifische Anforderungen zugeschnitten sind. Für die mit der Individualisierung der Aufbauten verbundene Wertschöpfungsleistung sind neben den Automobilherstellern nach Angaben des Europäischen Automobilhersteller-Verbandes (ACEA) > 10.000 Aufbauhersteller in Europa tätig, darunter zahlreiche kleine und mittlere Unternehmen.

Diese Besonderheiten stellen – in Verbindung mit den infrastrukturellen Rahmenbedingungen – eine hohe Marktbarriere für den Einsatz elektrischer leichter Nutzfahrzeuge dar.

Keine Trendumkehr ohne ambitionierte CO2-Limits

Allein die aus den Nutzerpräferenzen resultierenden Marktbarrieren für elektrische leichte Nutzfahrzeuge erklären den jahrelangen Stillstand beim Antriebsmix allerdings nicht. Denn anders als im PKW-Bereich gibt es bis heute keine ambitionierten regulativen Auflagen zu den CO2-Limits für leichte Nutzfahrzeuge, die eine Trendumkehr zu emissionsreduzierten Antrieben hätten beschleunigen können. Dieser Mangel an verpflichtenden Vorgaben mit einem Anspruchsniveau analog des PKW-Bereichs ist wenig verständlich.

Als 2014 erstmals mit Gültigkeit ab 2017 europäische CO2-Grenzwerte für leichte Nutzfahrzeuge festgelegt wurden, war dieser Wert mit 175 g/km bereits im Jahr der Festlegung unterschritten ! Auch der für 2020 festgelegte Wert mit 147 g/km liegt wenig ambitioniert nur um ca. 7 % unter dem Ist-Wert von 2019, während im PKW-Bereich die Messlatte deutlich höher positioniert wurde (Zielwert 2020 – 22 % unter Ist-Werten 2019).

Bis 2020/2021 sind daher durch die regulativen Vorgaben für CO2-Limits keine nennenswerten Impulse für eine Trendumkehr in Europa entstanden. Dies ändert sich erst jetzt mit den CO2-Vorgaben für die nächsten Jahre. Ausgehend von den IST-Werten 2019 müssen die CO2-Emissionen bei leichten Nutzfahrzeugen bis 2025 um -21 % und bis 2030 um -35 % gegenüber 2021 reduziert werden.

Dieses Zielsetzungen sind ohne eine zeitnahe und nachhaltige Trendwende zu alternativen Antrieben nicht zu erreichen. Sind elektrische leichte Nutzfahrzeuge „der schlafende Riese der Elektromobilität“, der dank dieser regulativen Vorgaben jetzt endlich erwacht ?

Trendwende beginnt nur zögerlich – verfügt aber über hohes Wachstumspotential

Durch den Zeithorizont bis 2025/2030, war eine schnelle Trendumkehr nicht zu erwarten. Dennoch zeigen die Zulassungswerte leichter Nutzfahrzeuge in Europa selbst im Krisenjahr 2020 einen ersten Zuwachs um ca. 40 % bei elektrischen Fahrzeugen. Dieser Zuwachs resultiert nach Angaben des European Alternative Fuels Observer (EAFO) nahezu ausschließlich aus Batterie-elektrischen Fahrzeugen (insgesamt ca. 34.000 Fahrzeuge), während Plug-in Hybride mit ca. 900 Fahrzeugen nur eine untergeordnete Rolle spielen und Fahrzeuge mit Brennstoffzellenantrieb in ganz Europa nur 7 Neuzulassungen aufweisen können.

Zugleich ist allerdings festzustellen, dass die Automobilhersteller beginnen, sich auf die neuen Rahmenbedingungen einzustellen.

  • 2020/2021 haben die europäischen Automobilhersteller ihr Modellangebot an elektrischen leichten Nutzfahrzeugen nahezu verdoppelt. Dabei fokussieren alle Hersteller auf BEV (Battery Electric Vehicles), auch wenn es einige Beispiele von Hydrogen-Modellvarianten gibt (Renault, PSA).
  • Technologisch basieren die Fahrzeuge noch auf umgebauten Verbrenner-Plattformen. Für die Zeit ab 2022/2023 sind jedoch bei mehreren führenden Herstellern dezidierte Elektro-Plattformen in Vorbereitung (PSA, Volkswagen, Mercedes Benz), die über technische Vorteile verfügen und für unterschiedliche Fahrzeuge skaliert werden können. Dies ist eine wichtige Basis für künftiges Wachstum.

Da sich die großen Automobilhersteller in den letzten Jahren nur sehr zögerlich der Elektromobilität bei leichten Nutzfahrzeugen zugewandt haben, sind eine ganze Reihe von Newcomern und Start-ups entstanden.

Pionier und Wegbereiter in Deutschland ist die bereits 2010 gegründete und 2014 von der Deutschen Post übernommene StreetScooter GmbH, die jetzt allerdings möglicherweise vor dem AUS steht, nachdem ca. 15.000 Elektro-Fahrzeuge für die Deutsche Post/DHL hergestellt wurden. Diese Entwicklung steht in deutlichem Kontrast zu anderen internationalen Märkten, in denen sich Start-ups wie z.B. Rivian/US und Arrival/UK sehr erfolgreich entwickeln und an denen ebenfalls Großkunden wie z.B. Amazon und UPS direkt beteiligt sind. Bis 2030 soll allein Rivian 100.00 elektrische Lieferfahrzeuge an Amazon für den nordamerikanischen Markt liefern.

Während diese Start-ups auf den Volumenmarkt der Kurier-Express-Paketdienste abzielen, sind für ausgewählte Nischenmärkte eine Vielzahl weiterer junger Unternehmen entstanden. In Deutschland z.B. die Unternehmen Tropos (Herne), Evum (Bayerbach), Ari Motors (Borna) und Sevic (Bochum).

Fazit

Der Markt für leichte Nutzfahrzeuge mit alternativen Antrieben wird in Europa bis zum Ende dieses Jahrzehnts überdurchschnittlich wachsen. Ausgehend von dem geringen Ausgangsniveau im Jahr 2020 mit 40.000 neu zugelassener Light Commercial Vehicles (LCV) mit alternativen Antrieben ist bis 2025 ein Anstieg dieser leichten Nutzfahrzeuge auf 125.000 und bis 2030 auf 370.000 Fzg. zu erwarten. Dieses Wachstum wird nahezu ausschließlich auf Batterie-elektrische leichte Nutzfahrzeuge entfallen. Hier ist eine Zunahme von 34.000 neu zugelassenen E-LCV 2020 auf 100.000 in 2025 und auf 310.00 in 2030 zu erwarten. Dies entspricht einer Wachstumsrate von ca. 25 % p.a. bis 2030 bei BEV.

Diese Prognose des Chemnitz Automotive Institute (CATI) zum künftigen Wachstum elektrischer leichter Nutzfahrzeuge in Europa und der sich jetzt ankündigenden Trendwende zur Elektromobilität setzt drei wesentliche Technologietrends voraus, die zu einer Kostenreduzierung bei gleichzeitiger Gewichts- und Bauraumoptimierung führen und den Abbau noch bestehender Marktbarrieren für E-LCV unterstützen: Plattformstrategie, Modularisierung und Leichtbau insb. bei den Aufbauten.

Dokumente und Downloads

Studie - Wachstumsmarkt Elektromobilität bei leichten Nutzfahrzeugen – Chancen für die Zulieferindustrie - PDF

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