Demokratie durch die Energiewende? Nein. Demokratischer durch die Energiewende? Ja. Eine Betrachtung auf individueller und internationaler Ebene.

Gastautor Portrait

Christian Schneider

Politologe und Soziologe bei der Smart Grids-Plattform Baden-Württemberg e. V.

Christian Schneider promoviert in empirischer Demokratieforschung an der Universität Stuttgart. In der soziologischen Technikfolgenabschätzung ist er als Senior Researcher für die Smart Grids-Plattform Baden-Württemberg e. V. tätig, hier befasst er sich intensiv mit der Transformation des Energiesystems und speziell der Energienetze.

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25. April 2022

Die Energiewende ist das zentrale Element des Klimaschutzes und damit das Werkzeug gegen eine der größten Bedrohungen der Menschheit, den Klimawandel. Zusätzlich zu dieser langfristigen angelegten Pflichtaufgabe ist mit dem völkerrechtswidrigen Angriffs Russlands auf die Ukraine der strategische sicherheitspolitische Aspekt der Energiewende nun wieder stark in den Fokus gerückt: Die Abhängigkeit von fossilen Energieressourcen und die sie kontrollierenden, oftmals autokratischen Staaten.

Neben den rationalen Argumenten für die Energiewende wird auch ein anderer, normativer Aspekt in diesem Zusammenhang häufig betont: Die „Demokratisierung“ des Energiesystems durch erweiterte Beteiligung („Partizipation“) aller gesellschaftlichen Akteure, insbesondere der Bürgerschaft. Doch was steckt hinter dem gerne genutzten politischen Schlagwort „Demokratisierung“ in diesem Zusammenhang? Wie groß sind die Möglichkeiten der Beteiligung? Wie „demokratisch“ kann die Energieversorgung werden? Im Folgenden wird in Kürze auf zwei Ebenen (individuell und international) betrachtet, inwiefern die Energiewende eine Demokratisierung des Energiesystems mit sich bringt und wo dabei die Grenzen liegen.

Was ist Demokratie? Kann das Energiesystem „demokratisch“ sein?

Bei der demokratischen Mitbestimmung sind insbesondere zwei Prinzipien relevant: Gleichheit und Freiheit.

Christian Schneider

Das Wort Demokratie aus dem altgriechischen bedeutet sinngemäß „Volksherrschaft“ und bezieht sich damit primär auf das System der Machtvermittlung also der politischen Gestaltung eines Gemeinwesens, etwa eines Staates. Während in der Antike Entscheidungen in der Polis unter allen „Vollbürgern“ (männlich, Besitzer eines eigenen Hofes) direkt abgestimmt wurden, erfordert die Komplexität von Staaten heutzutage eine sogenannte Repräsentation, bei der alle erwachsenen Bürgerinnen und Bürger politische Repräsentantinnen und Repräsentanten wählen oder über einige wenige Inhalte direkt abstimmen.

Dass nicht mehr (wie in der antiken Polis) über alle politischen Fragen direkt abgestimmt wird, liegt an der ungeheuren Komplexität der Gesetze; in den Industrieländern sind es teilweise mehrere Tausend pro Jahr. Bei der demokratischen Mitbestimmung sind insbesondere zwei Prinzipien relevant: Gleichheit und Freiheit. Die Gleichheit der Stimmen (zwischen allen volljährigen Personen, welche die Staatsbürgerschaft besitzen), Gleichheit der Handlungsmöglichkeiten (Abstimmen, Möglichkeit zu kandidieren) und den Freiheiten beliebig abzustimmen und beliebig zu kandidieren. Die Beteiligung („Partizipation“) erfolgt anhand dieser Kriterien primär über die Wahl von Repräsentantinnen und Repräsentanten oder bei einzelnen direktdemokratischen Entscheidungen. Diesen Abstimmungen ist gemein, dass öffentliche Diskurse vorausgingen in denen die Entscheidungsoptionen vielfach diskutiert und Positionen und Argumente ausgetauscht („deliberiert“) wurden.

Dies wirft die Frage auf inwiefern sich diese demokratischen Prinzipien der Freiheit und Gleichheit auch auf das Energiesystem bzw. die Energiewende übertragen lassen. Häufig wird von einer „Demokratisierung durch die Energiewende“ gesprochen. Wie kommt diese Verbindung jedoch zustande? Da die Entscheidungen für die Energiewende auf staatlicher Ebene durch gewählte Repräsentantinnen und Repräsentanten unter großem gesellschaftlichem Konsens getroffen wurden, ist die Beteiligung nur noch in wenigen Fällen bei den grundsätzlichen Entscheidungsprozessen zu sehen. Partizipation wird hier vielmehr bei der Umsetzung der Energiewende gesehen, durch die individuellen Möglichkeiten zur Beteiligung sowie bei Abstimmungen vor Ort, die in der Regel über die Umsetzung lokaler Projekte entscheiden.

Individuelle Beteiligungsmöglichkeiten („Partizipation“) bei der Energiewende

Mit Wohneigentum ist die eigenständige Gestaltung der Wärmeerzeugung und -Nutzung deutlich leichter möglich, genauso die eigenständige Stromerzeugung.

Christian Schneider

Anders als im rein politischen Verständnis von „Demokratie“ beinhaltet die Partizipation in der Energiewende also nur sehr begrenzt die Teilnahme in politischen Entscheidungsprozessen. Es obliegt damit nicht mehr die Entscheidung ob die Energiewende generell durchgeführt wird, sondern mehr in der Frage wie das individuelle Handeln der Energiewende gestaltet wird, welche Möglichkeiten der Beteiligung wahrgenommen und umgesetzt werden (können). Die Bürgerinnen und Bürger können sich weiterhin in politische Entscheidungsprozesse wie Wahlen und Abstimmungen über lokale Umsetzungsprojekte einbringen. Die Frage nach der Übertragung demokratischer Prinzipien verlagert sich damit noch auf eine andere Ebene: Die der Umsetzung.

Mit der Energiewende erwachsen der Bürgerschaft und anderen sozialen Akteuren neue Gestaltungsmöglichkeiten für die Energienutzung oder -Bereitstellung. Der Betrieb einer Aufdach-PV-Anlage, mit grünem Brennstoff betriebene Mini-Blockheizkraftwerke oder der Einbau einer anderen klimaneutralen Heizungslösung z. B. mit Wärmepumpe; Anschluss ans Nahwärmenetz etc. seien hier nur als einige wenige Beispiele genannt. Die schiere Anzahl bestätigt dies: Allein 2019 wurden mehr als 1.600.000 PV-Anlagen in Deutschland erfasst, der größte Teil davon dezentral als Dachinstallation auf Wohngebäuden. Die große Zahl dieser sogenannten Prosumentinnen und Prosumenten zeigt deutlich: Wo früher wenige Energieversorger Bevölkerung, Gewerbe und Industrie versorgten zeigt sich heute eine deutliche Ausweitung der Energieversorgung, auch Privatpersonen beteiligen sich aktiv an der Energieerzeugung und damit an der Gestaltung der Energiewende. Zwar hat theoretisch jede Bürgerin und jeder Bürger die gleichen Rechte in Bezug auf die Energieversorgung, so etwa Energie aus eigenen Erzeugungsanlagen (z.B. Photovoltaik auf dem Dach) einzuspeisen, was z.B. durch diskriminierungsfreien Zugang und Anschlussverpflichtung der Netzbetreiber gewährleistet wird, jedoch ist der jeweilige Beteiligungs- und Gestaltungsspielraum durch die individuellen Randbedingungen stark eingeschränkt.

So sind insbesondere organisatorische und finanzielle Rahmenbedingungen zu nennen, die sich auf die individuellen Möglichkeiten auswirken. Allein die Frage, ob eine Person in einem Eigenheim wohnt oder zur Miete, macht hier einen sehr großen Unterschied. Mit Wohneigentum ist die eigenständige Gestaltung der Wärmeerzeugung und -Nutzung deutlich leichter möglich, genauso die eigenständige Stromerzeugung. Diese mit essenziellen Eingriffen ins Gebäude verbundenen Möglichkeiten stehen Mietenden praktisch nicht offen. In Deutschland etwa, in welchem mehr als 50% der Haushalte zur Miete wohnen, steht dieser Gestaltungsspielraum rund ums Eigenheim somit nur weniger als der Hälfte offen. Auch wenn mittlerweile niedrigschwellige Möglichkeiten wie Balkon-Solar-Anlagen existieren, müssen diese Vermietungsseitig nicht in jedem Fall geduldet werden; auf den Austausch von Heizungsanlagen etwa besteht gar kein Einfluss. Neben der Gretchenfrage nach dem Wohneigentum gibt es ebenso organisatorische Rahmenbedingungen die eine Beteiligung ausschließen können. So ist die Umsetzung von Energiewendemaßnahmen in einem Mehrparteienhaus sicher deutlich schwieriger als bei alleinigem Eigentum durchzusetzen. Andere Möglichkeiten wie die Beteiligung an einer Bürgerenergiegenossenschaft oder z.B. Crowdfunding oder der Erwerb von Genossenschaftsanteilen an Energiewendeprojekten erfordern finanzielle Mittel – und schließen damit jene großen Teile der Gesellschaft aus, die über keine freien Finanzmittel verfügen. Die minimale Partizipationsmöglichkeit ist hier die Auswahl eines nachhaltigen Energieversorgungstarifs oder eines Liefervertrags mit einer Energiegenossenschaft die nachhaltig produzierte Energie liefert.

Bewirkt die Energiewende also eine Demokratisierung der Energieversorgung? Auf der individuellen Ebene kann dies mit einem glasklaren „Jein“ beantwortet werden. Demokratisierung ist hier vornehmlich auf die Umsetzung der Energiewende zu beziehen. Und insgesamt sind auf der individuellen Ebene die Partizipationsmöglichkeiten sehr heterogen verteilt – eine Demokratisierung im Sinne von gleichen Beteiligungsmöglichkeiten ist hier nur sehr bedingt sichtbar. Zwar ist insgesamt ein deutliches Anwachsen an Möglichkeiten zur eigenverantwortlichen Beteiligung an der Energieversorgung und -Nutzung zu verzeichnen. An den Zahlen lässt sich ablesen, dass diese Möglichkeiten auch gerne genutzt werden. Da aufgrund der organisatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen jedoch ein großer Teil der Bevölkerung nicht die Möglichkeit der Teilhabe hat, ist die Demokratisierung auf jene mit den passenden Rahmenbedingungen begrenzt.

Eine Demokratisierung durch die Energiewende in globaler Perspektive

Die Energiewende kann Unabhängigkeit von den fossilen Brennstoffen schaffen, und hier den strategischen Vorteil der brennstoffreichen Staaten ausräumen.

Christian Schneider

Auch in globaler Perspektive kann die Frage gestellt werden inwiefern die Energiewende zu einer Demokratisierung führt. Die internationalen Energiewendebemühungen sollen den Klimawandel als globales Phänomen bekämpfen, und dienen so in Summe allen Staaten gleichermaßen, wenngleich einige Staaten schwerere Klimafolgen zu ertragen hätten. Durch die Energiewende erfolgt jedoch auch eine Verbesserung der Chancengleichheit zwischen den Staaten. Staaten sind im Sinne des Völkerrechts theoretisch gleichberechtigt, ungeachtet ihrer Bevölkerungszahl oder wirtschaftlicher Stärke. Aufgrund historischer Gegebenheiten und des daraus resultierenden Status Quo besitzen diese jedoch im internationalen System unterschiedliche Gewichte (z.B. wirtschaftlicher Natur) bei der Durchsetzung ihrer Interessen.

Die Demokratisierung durch die Energiewende auf internationaler Ebene kann hierbei auf zwei Arten gesehen werden: Die Energiewende verringert die Unterschiede zwischen Staaten, die derzeit in der wirtschaftlichen Entwicklung aufholen und den wirtschaftlich sehr stark entwickelten Industrieländern. Weiterhin sorgt die Energiewende für eine verschwindende Abhängigkeit von Exporteuren fossiler Energieträger, nimmt diesen so einen strategischen Vorteil.

Die Industrialisierung und auch die Post-Industrialisierung waren primär durch die Nutzung fossiler Energiequellen vorangetrieben. Die fossilen Brennstoffe dienten jenen Staaten, welche das „Glück“ früher Industrialisierung teilen konnten, als Treibstoff für industriellen und damit auch wirtschaftlichen Aufschwung. Entwicklungs- und Schwellenländer haben jetzt die Chance ihre Entwicklung gleich nachhaltig zu gestalten, um so später nicht die enormen Transformationskosten eines fossil betriebenen hin zu einem erneuerbar betriebenen Energiesystems schultern zu müssen. Erneuerbare Energien sind häufig dezentral einsetzbar, umweltfreundlich und kostengünstig verfügbar, wie es am Beispiel von PV-Technologie sichtbar ist. Um Entwicklungs- und Schwellenländer zu entlasten, existieren internationale Mechanismen zur Lastverteilung der Klimaschutz- und Energiewendemaßnahmen (sog. „burden sharing“); diese verteilen den Aufwand nach wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit der Staaten.  Nicht zuletzt sorgen Instrumente zur Förderung der emissionsfreien Entwicklung von Schwellenländern (z. B. „Clean Development Mechanisms“), für Entlastung. Industriestaaten finanzieren diese Maßnahmen, ihr Anreiz liegt darin sich die Emissionsreduktionen anrechnen lassen zu können. Energiewendemaßnahmen haben somit das Potenzial den wirtschaftlichen Entwicklungsstand bei gleichzeitiger Nachhaltigkeit zu erhöhen.

Die geostrategische Dimension der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen wurde mit dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 wieder stark in den Fokus gerückt. Vollumfängliche Sanktionsmaßnahmen gegen völker- oder menschenrechtsverletzende Staaten durchzusetzen ist schwierig, wenn diese über das strategische Faustpfand der Abhängigkeit anderer Staaten von deren fossilen Brennstoffen verfügen. Doch nicht nur der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zeigt auf, welch politisches Gewicht die fossilen Brennstoffe auch im internationalen Vergleich einzelnen Staaten geben. Die Energiewende kann Unabhängigkeit von den fossilen Brennstoffen schaffen und den strategischen Vorteil der brennstoffreichen Staaten ausräumen. Zwar lassen sich so andere Ungleichgewichte insbesondere wirtschaftlicher Natur durch die Energiewende nicht völlig ausräumen. Die wechselseitige Abhängigkeit von einem der kritischsten Faktoren der Energieversorgung sinkt jedoch. So stärkt die Energiewende im internationalen Raum das demokratische Prinzip des Völkerrechts, nach welchem alle Staaten gleiche Rechte besitzen.

Demokratie durch die Energiewende? Nein. Demokratischer durch die Energiewende? Ja.

In Summe lässt sich sagen, dass die Energiewende Potenzial hat die Energieversorgung und -Nutzung sowohl auf individueller Ebene als auch im internationalen Raum demokratischer zu gestalten. Demokratischer auf der individuellen Ebene ist hier aber nicht mehr im Kontext der Teilnahme an Entscheidungsprozessen zu sehen, diese ist nach wie vor vorhanden und wird über freie und gleiche Wahlen sichergestellt. Vielmehr vergrößert die Energiewende die Möglichkeiten zur individuellen Partizipation an der Energieversorgung und -Nutzung und transferiert die Demokratieprinzipien Freiheit und Gleichheit damit auf die Energieversorgung. Da diese jedoch von vielen individuellen Rahmenbedingungen (u. a. technischer, organisatorischer und finanzieller Gegebenheiten) abhängig ist, hat nur ein Teil der Bevölkerung die Möglichkeit sich vertieft zu beteiligen. Auf internationaler Ebene kann die Energiewende die Demokratie des Staatensystems verbessern, indem sie hilft ungleich verteilte wirtschaftliche Entwicklungsstände anzugleichen. Ebenso kann die Energiewende das strategische Momentum, das einige Staaten durch den Besitz fossiler Ressourcen besitzen, ausgleichen, indem es die Abhängigkeiten anderer Staaten reduziert und schlussendlich auflöst.

Die Energiewende hat somit auf individueller wie auch auf internationaler Ebene das Potenzial demokratische Prinzipien zu stärken, den Akteuren mehr Unabhängigkeit, Entscheidungsfreiheit und Gestaltungsspielräume zu geben und sich aus Abhängigkeiten zu befreien. Auch wenn aufgrund der Randbedingungen jeweils nicht alle involviert werden können, ist dies doch eine Verbesserung gegenüber dem Status Quo. Die Energiewende bringt also nicht die im politischen Sinne vollständige Demokratie der Energieversorgung, aber sie macht verschiedene Aspekte demokratischer.

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