Implikationen der aktuellen Krise für die Energiewende

Gastautor Portrait

Lara Schech

Managerin für Energiewirtschaft und Positionierung, EnBW Energie Baden-Württemberg AG

Lara Schech arbeitet als Managerin für Energiewirtschaft und Positionierung bei EnBW. Sie hat ihr Bachelorstudium an der Sciences Po Paris sowie anschließend einen Doppelmaster in Internationaler Energiewirtschaft an der Universität Leipzig und dem Staatlichen Moskauer Institut für Internationale Beziehungen (MGIMO) absolviert. Während des Studiums war sie als Beobachterin und Jugenddelegierte bei UN-Klimakonferenzen aktiv. Derzeit ist sie Vorstandsmitglied der Young Energy Professionals des Weltenergierat Deutschland sowie des Hertie Energy and Environment Networks.

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07. März 2022
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Für die neue Regierung birgt die jetzige Situation die Gefahr, im Krisenmodus auf Sicht zu fahren [...]

Lara Schech

Der Krieg in der Ukraine überschattet derzeit alles. Viele sicher geglaubte Rahmenbedingungen hat er in kürzester Zeit außer Kraft gesetzt. Die Auswirkungen sind nicht vorhersehbar, ein belastbarer energiepolitischer und -wirtschaftlicher Ausblick scheint derzeit kaum möglich. Entsprechend groß ist die Aufregung um unsere Energiezukunft. Wenn man versucht, sich davon zu lösen, zeigt sich jedoch: Die grundsätzliche Richtung, die wir zuvor schon eingeschlagen haben, ist jetzt wichtiger denn je.

Nach jahrelangem Stillstand schien es mit dem Regierungswechsel 2021, als würde endlich der Mehltau von der deutschen Energiepolitik abfallen. Viele von uns, die sich seit Jahren mit Energiewende und Klimaschutz beschäftigen, atmeten angesichts des plötzlich neuen Ambitionsniveaus auf. Es war klar, dass es zunächst ums Aufholen von bisherigen Versäumnissen gehen würde. Aber die Ampel-Koalition machte glaubhaft, dass sie mindestens den nötigen politischen Willen dazu habe.

In der jetzigen Krise zeigt sich, dass man die Energiepolitik der letzten Jahre viel mehr hätte infrage stellen müssen – und dass sie uns großen Risiken ausgesetzt hat, die unterschätzt wurden und die sich jetzt rächen. Für die neue Regierung birgt die jetzige Situation die Gefahr, im Krisenmodus auf Sicht zu fahren und die Dynamik für den Transformationsprozess, den man gerade angehen wollte, wieder zu verlieren. Andererseits bietet sich auch die Chance, das Projekt Energiewende, das jetzt mehr denn je für die Sicherheit, Unabhängigkeit und Freiheit Deutschlands und Europas steht, mit eben diesem Hebel nochmal zu beschleunigen.

In der Debatte um die energiepolitische Zukunft gilt es, kurz- und langfristige Auswirkungen voneinander zu trennen. Wie sich Energiewirtschaft und -politik in den kommenden Monaten und nächsten Jahren ändert, ist derzeit kaum abzuschätzen. Wichtig ist es, die Prioritäten der letzten Jahre nicht über Bord zu werfen. Die drei großen Leitplanken Versorgungssicherheit, Klimaschutz und soziale Gerechtigkeit bleiben bestehen, Wechselwirkungen müssen berücksichtigt und ausgeglichen werden.

Klimaschutz hat langfristig weiterhin höchste Priorität

Die Energiewirtschaft wird einige Zeit improvisieren müssen und Versorgungssicherheit dabei zunächst die höchste Priorität einnehmen.

Lara Schech

Während die Schlagzeilen zur Ukraine sich überschlugen, veröffentlichte der Weltklimarat (IPCC) Ende Februar den zweiten Teil seines 6. Sachstandsberichts und unterstrich darin deutlicher denn je die Dringlichkeit effektiven Handelns. Die Risiken und Auswirkungen des Klimawandels werden immer komplexer und schwieriger zu bewältigen, Milliarden Menschen sind schon heute stark gefährdet und manche Ökosysteme haben die Grenzen der Anpassungsmöglichkeiten an den Klimawandel bereits erreicht.  An der hohen Priorität des Klimaschutzes ändert sich durch den Krieg in der Ukraine nichts. Emissionsminderung muss auch und gerade in der jetzigen Situation berücksichtigt und vorangetrieben werden.

Die energiepolitische Realität wird das in den nächsten Jahren erschweren. Bisherige Planungen sind überholt. Die Energiewirtschaft wird einige Zeit improvisieren müssen und Versorgungssicherheit dabei zunächst die höchste Priorität einnehmen. Dem wird sich der Klimaschutz gegebenenfalls kurzfristig unterordnen müssen. Beispielsweise könnten Braunkohlekraftwerke in den nächsten Jahren später als bisher anvisiert vom Netz genommen werden, oder Kraftwerke, die bereits in der Sicherheitsbereitschaft oder gar stillgelegt sind, wieder ans Netz angeschlossen werden. Das wird für viele, die in den letzten Jahren für ambitionierteren Klimaschutz gekämpft haben, ob auf der Straße oder in Konzernen, schwer zu ertragen sein. Letztlich führt aber kein Weg an den Klimazielen und Emissionsbudgets vorbei. Die Gesamtemissionsmenge aus der Kohleverstromung ist ohnehin im Rahmen des europäischen Emissionshandels gedeckelt. Es ändert sich also nur, wann wieviel, nicht wieviel in Summe emittiert wird.

Erneuerbare sind für die Energiezukunft mehr denn je entscheidend

Auch wenn die Kohle in den kommenden Jahren eine größere Rolle spielen könnte als geplant, steht damit nicht zwangsläufig fest, dass ein Kohleausstieg 2030 gescheitert ist oder scheitern wird. Dagegen spricht allein, dass die Dekarbonisierung im Energiesektor nach wie vor am einfachsten zu vollziehen ist und sich auch auf die Zielerreichung in Industrie, Gebäude- und Verkehrssektor auswirken wird. Der Abbau von fossilen Erzeugungskapazitäten und der Erneuerbaren-Ausbau sind für die Energiezukunft mehr denn je entscheidend. Die Erreichbarkeit von 110 GW Onshore-Wind und 200 GW Photovoltaik in Deutschland bis 2030 schien für viele bis vor kurzem noch in weiter Entfernung. Jetzt hat sie sich deutlich erhöht, da der Beitrag der Erneuerbaren Energien zu Importunabhängigkeit und Versorgungssicherheit noch größere Bedeutung genießt. In den letzten Jahren hat man immer wieder von der Demokratisierung der Energieversorgung durch Erneuerbare Energien gelesen. Dieses Narrativ wird im jetzigen Kontext mit ganz neuem Leben gefüllt.

Der neue Schub für die Erneuerbaren Energien, der bereits durch die neue Regierung erwartet wurde und sich jetzt noch einmal verstärkt, wird zwar nicht sofort, aber jedenfalls vor 2030 greifen. Die Erwartungen an die für 2022 angekündigten Gesetzespakete, den Ausbau der „Freiheitsenergien“ zu entfesseln, haben weiter zugenommen. Genehmigungshürden, Flächenausweisungen – die Überwindung der Bottlenecks der letzten Jahre ist jetzt Schlüssel zu fossiler Unabhängigkeit. Der neue Fokus auf den Erneuerbaren könnte auch der Elektrifizierung anderer Sektoren frischen Wind verschaffen. Dies gilt beispielsweise für die Elektromobilität oder Wärmepumpen, die ebenfalls Unabhängigkeit von Öl- und Gasimporten bedeuten.

Größte Herausforderungen bei Einstellung russischer Gas-Lieferungen

Um die Importabhängigkeit von Russland zu reduzieren und Versorgungssicherheit zu gewährleisten ist die Erschließung alternativer Gas-Bezugsquellen notwendig.

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Kurzfristig wäre die Einstellung russischer Gas-Lieferungen die größte Herausforderung. Für den jetzigen Winter sind noch ausreichend Gasreserven vorhanden. Für den nächsten wären die vorhandenen Kapazitäten und Reserven jedoch zu gering, um einen Totalausfall russischer Lieferungen kompensieren zu können. In einem solchen Fall würden die vorhandenen Notfallpläne mit gezielter Nachfragekappung und den entsprechenden volkswirtschaftlichen Konsequenzen greifen müssen.

Um die Importabhängigkeit von Russland zu reduzieren und Versorgungssicherheit zu gewährleisten ist die Erschließung alternativer Gas-Bezugsquellen notwendig. Mit dem Neubau von LNG-Terminals und Gas-Importen aus anderen Ländern gibt es dafür mittelfristig klare, wenn auch teurere Optionen. In diesem Kontext ist besonders wichtig: Die Unabhängigkeit von Russland wird ihren Preis haben. Die Energiepreisrallye der letzten Monate hat einkommensschwache Haushalte bereits besonders stark getroffen. Um bei der notwendigen Transformation alle mitzunehmen, gilt es weiterhin, auf die soziale Gerechtigkeit der Energiewende ein besonderes Augenmerk zu legen und im gesellschaftlichen Interesse zusätzlich entstehenden Kosten nicht besonders denen zur Last zu legen, die sie am wenigsten tragen können.

Sollte es zu einer Einstellung der Gas-Lieferungen aus Russland kommen, werden alle Lösungsoptionen auf den Tisch kommen. Dazu gehört auch eine Laufzeitverlängerung für die Kernenergie. Diese Option muss bereits heute vorbereitet werden. Die Sinnhaftigkeit einer tatsächlichen Laufzeitverlängerung um wenige Jahre über 2022 hinaus wäre letztendlich von zwei Faktoren abhängig: Zum einen davon, wie gut der Gasbedarf durch alternative Quellen und neue LNG-Terminals tatsächlich gedeckt werden kann; und zum anderen davon, ob man die Verwendung von Gas im Stromsektor reduzieren und ersetzen muss, weil sonst der Gasbedarf beispielsweise im Wärmesektor nicht gedeckt wäre. Ist genug Gas vorhanden, braucht es überhaupt keine, auch keine befristete Verlängerung der Kernkraft in Deutschland. In jedem Fall gilt: In dem Moment, in dem die Kernenergie für die Gewährleistung der Versorgungssicherheit nicht mehr notwendig ist, ist zum angedachten Ausstieg zurückzukehren.

Stärkerer Rückenwind jetzt auch für grünen Wasserstoff

Langfristig muss Gas nach wie vor durch klimaneutralen Wasserstoff ersetzt werden. Die neuen Rahmenbedingungen werden den Markthochlauf hoffentlich beschleunigen. Gleichzeitig ist auch hier auf die Schaffung neuer Abhängigkeiten und Lock-In-Effekte zu achten. Die neu erkannte, geostrategische Bedeutung von Erneuerbaren Energien lässt sich direkt auf die Rolle von grünem Wasserstoff übertragen.

Die russische Haltung zu Wasserstoff, insbesondere aus erneuerbarem Strom, als dekarbonisiertes Pendant und Nachfolgeprodukt zum Erdgas war bis zuletzt kritisch bis ablehnend. Wie lange die Gas-Handelsbeziehungen zu Russland hier noch aufrecht erhalten geworden wären, war in diesem Kontext ohnehin fraglich. Russland hätte nach bisherigem Stand das auf lange Sicht gewünschte Energieprodukt (grünen Wasserstoff) voraussichtlich nicht liefern können oder wollen. Wenn Deutschland seine Gasbeziehungen bereits heute diversifiziert, kann es davon also in zweierlei Hinsicht nachhaltig profitieren.

Von der Krisenstimmung nicht ablenken lassen

Die Krise demonstriert: Die Transformation der Energiewirtschaft und unsere grundsätzliche Ausrichtung sind wichtiger denn je [...]

Lara Schech

Die Krise demonstriert: Die Transformation der Energiewirtschaft und unsere grundsätzliche Ausrichtung sind wichtiger denn je, auch um Deutschland und Europa unabhängiger zu machen. Die Ereignisse und Entscheidungen der kommenden Wochen und Monate werden Implikationen für Jahre, vielleicht Jahrzehnte haben. An den Prioritäten und Zielen ändert sich dennoch nichts. Erste Stimmen versuchen, die Krisenstimmung zu nutzen, um zentrale Entscheidungen zu revidieren und wichtige Themen unter den Tisch zu kehren. Aber auch in Klimaschutz muss Zeit und Geld investiert werden. Der frühzeitige Kohleausstieg ist nicht automatisch vom Tisch. Der deutsche Kernkraftausstieg steht grundsätzlich nicht zur Diskussion. Die Ziele des Projektes Energiewende sind bedeutender denn je, und der Weg dorthin lässt nach wie vor keine großen Umwege zu. Jetzt ist nicht die Zeit, Skeptikern und Rückwärtsgewandten wieder die Aufmerksamkeit zu schenken, die wir bereits in den letzten Jahrzehnten dem Fortschritt hätten widmen müssen.

Eine letzte Bemerkung: Themen wie energetische Sanierungen, Engpässe im Handwerk oder die Nachhaltigkeit von PV-Modulen erscheinen im Vergleich zu den großen energiewirtschaftlichen Umbrüchen schnell wie Randnotizen. Es mag merkwürdig und absurd wirken, dazu jetzt zu arbeiten, zu twittern, zu schreiben. Aber all diesen Fragen müssen wir uns weiterhin widmen. Wenn die aktuelle Lage sich als Beschleuniger der Energiewende herauskristallisiert, brauchen wir auch für diese Themen noch drängender als bisher tragfähige Lösungen.

Dieser Beitrag stammt vom 4. März 2022.

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  1. Dr. Volker Kienzlen

    vor 2 Jahren

    Danke, ein sehr fundierter und treffender Überblick über die aktuelle Situation. Wie sich doch auch die enbw gewandelt hat in den vergangenen Jahren!

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