Energiepolitik und Klimaschutz in Zeiten des Krieges

Gastautor Portrait

Hubertus Grass

Kolumnist

Nach Studium, politischem Engagement und Berufseinstieg in Aachen zog es Hubertus Grass nach Sachsen. Beruflich war er tätig als Landesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Prokurist der Unternehmensberatung Bridges und Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden. 2011 hat er sich als Unternehmensberater in Dresden selbständig gemacht.

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16. März 2022

Spaziergänger auf der Autobahn! Am 25. November 1973 war es ganz normaler Anblick. Bundeskanzler Willy Brandt hatte die schwere Aufgabe persönlich übernommen, den auto-verliebten Bürgern der Bundesrepublik Deutschland mitzuteilen, dass Deutschland Öl sparen müsse und daher dem Land ein autofreier Sonntag verordnet wurde. An den Werktagen galt ein Tempolimit. Damals ging es um einen Preiskampf mit der OPEC, heute geht es um einen Krieg. Damals wurden den Menschen etwas zugemutet. Was die Berichte des IPCC in 30 Jahren nicht vermocht hatten, schafft auch nicht der russische Überfall auf die Ukraine: Deutschland in der Energiepolitik und beim Klimaschutz aus der Komfortzone zu schubsen. Weder stehen ein Tempolimit noch die Absenkung der Temperaturen in öffentlichen Gebäuden auf der Agenda. Autofreie Sonntage schon gar nicht. Nicht die putinschen Verbrechen und das Leid der Menschen sind in der 3. Woche des Krieges der größte Aufreger, sondern die Preise an den Zapfsäulen.

Der Bericht des IPCC

Der Fortbestand der Zivilisation, wie wir sie kennen, ist ernsthaft gefährdet.

Prof. Hans Joachim Schellnhuber und Dr. Kira Vinke

Vier Tage nach Kriegsbeginn in der Ukraine veröffentlichte der IPCC das 2. Kapitel zum 6. Sachstandsbericht seines Reports. Hunderte Wissenschaftler aus 67 Ländern werteten tausende Klimastudien für den 3376 Seiten und 18 Kapitel umfassenden Bericht aus.

Noch deutlicher als in der Vergangenheit formuliert die Arbeitsgruppe II des IPCC (Folgen, Anpassung und Verwundbarkeit) die Gefahren: „Any further delay in concerted anticipatory global action on adaptation and mitigation will miss a brief and rapidly closing window of opportunity to secure a liveable and sustainable future for all.“ Keine weitere Verzögerung. Wie soll das gehen, wenn parallel ein Krieg in Europa geführt wird?

Gegenüber dem 5. Sachstandsbericht hat sich die Tonlage verschärft. Die Welt ist auf dem besten Weg, innerhalb des nächsten Jahrzehnts eine Erwärmung von 1,5℃ zu überschreiten. „Weltweit führt der Klimawandel zunehmend zu Verwundbarkeiten, Krankheiten, Unterernährung, Bedrohung der körperlichen und geistigen Gesundheit, des Wohlbefindens und sogar zu Todesfällen“.

Der Zusammenbruch des Klimas beschleunigt sich rapide, viele der Auswirkungen werden schwerwiegender sein als vorhergesagt und es besteht nur noch eine geringe Chance, die  schlimmsten Verwüstungen zu vermeiden, sagte der Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen (IPCC). Das Zeitfenster, in dem wir gegensteuern können, schließt sich. Oder anders gesagt: Nur eine radikale und sofortige Wende in der Energie- und Klimapolitik könnte irreversible Schäden begrenzen. Es droht ein Kaskadeneffekt, bei dem Waldbrände, das Absterben von Bäumen, das Austrocknen von Mooren und das Auftauen von Permafrostböden zusätzliche Kohlenstoffemissionen freisetzen und die Erwärmung weiter verstärken. Klimawissenschaftler wie Prof. Hans Joachim Schellnhuber und Dr. Kira Vinke formulieren es so: „Der Fortbestand der Zivilisation, wie wir sie kennen, ist ernsthaft gefährdet.“

Gas, Öl und Steinkohle aus Russland boykottieren?

Energiepolitik und Klimaschutz in Zeiten des Krieges
Gesehen auf einer Solidaritätsdemo für die Ukraine in Dresden

Russlands Angriff, die Pandemie und der sich verschärfende Klimawandel markieren eine dreifache Krise. Vorherrschend in der Debatte sind die strategischen Herausforderungen durch den Krieg in der Ukraine. Die Außen- und Sicherheitspolitikerinnen haben die Virologen aus den Talkshows verdrängt. Übers Klima wurde das letzte Mal nach der Flutkatastrophe im Ahrtal im deutschen Fernsehen  diskutiert. Und ebenso eindimensional fokussiert wie die Medienmeute auf das Leitthema wird über die Energiepolitik geredet. Einzelne Ministerpräsidenten fordern (wie immer!) die Verlängerung der Verstromung von Braunkohle. Die Warnungen des IPCC Berichts? Die Klimakrise? Derzeit kein Thema. So gab es in den deutschen Medien auch kaum Berichte oder Bilder von der Flutkatastrophe, die Australien heimsuchte

Deutschland hat in der Dekade des stetigen Wachstums von 2010 bis 2020 klimapolitisch sehr wenig bewegt. Jetzt wäre Zeit, Versäumtes nachzuholen. Das zu ändern, ist die neue Bundesregierung angetreten. Aber jetzt ist Triple-Krise. Seit zwei Jahren Corona, dazu noch Krieg. Fällt die Klimakrise wie immer hinten runter? 

Um die Karre am Laufen zu halten gibt die Bundesregierung – im wahrsten Sinne des Wortes – Gas. Die Bevorratung läuft, Lieferverträge werden beschlossen und LNG-Terminals sollen gebaut werden. Deutschland ist beim Gas abhängig von Russland. 

Sofortigen Ausstieg aus dem Energiegeschäft mit Russland! Das fordern der ukrainische Präsident, eine breite Bewegung von Wissenschaftlerinnen, Künstlern, Fridays for future und auch die CDU. Dabei haben wir uns selbst in diese Abhängigkeit hinein manövriert. Als Putin 2014 die Ukraine überfiel, das Völkerrecht brach und die Krim annektierte, wurde ein internationales Handelsembargo gegen Russland verhängt. Die deutschen Importe von Gas, Öl und Kohle liefen nicht nur weiter, als sei nichts passiert, sondern wurden sogar ausgebaut. In den letzten Jahren nach Inbetriebnahme von Nord Stream 1 stieg der russische Anteil am deutschen Gasimport von unter 40 Prozent auf aktuell 55 Prozent. Zusätzlich wurde der Bau von Nord Stream 2 begonnen. Die Gasspeicher, als strategische Reserve für den Krisenfall vorgesehen, wurden an russische Unternehmen. verkauft. Jene, die die damalige Politik verantworteten, haben nun ein massives Problem mit ihrer Glaubwürdigkeit in der Energie- und Klimapolitik. 

Vieles spricht dafür, den gesamten Energiehandel mit Russland zu kappen. Wann, wenn nicht jetzt, wollen wir mit dem Energiesparen anfangen? Und würde es politisch nicht von Reife und Entschlossenheit zeugen, dem drohenden Embargo durch Russland zuvor zu kommen? Die aktuellen Warnungen des IPCC – könnte die neue Bundesregierung mit einem Bezugsstopp für den erhofften frischen Wind in der Klimapolitik sorgen? 

Bleibt die Solidarität mit der Ukraine nicht nur leeres Gerede, wenn wir die Täter täglich mit hunderten Millionen Euros finanzieren? 

Zu abhängig, um frei zu entscheiden

Bisher macht sich die Bundesregierung die Forderungen nicht zu eigen. Robert Habeck, Wirtschafts- und Energieminister, widersteht dem öffentlichen Druck und warnt vor den wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen des sofortigen Bezugsstopps. Sein Weg ist der, die Abhängigkeit so schnell wie möglich zu verringern und sich parallel auf den russischen Stopp des Exports vorzubereiten. Unabhängig zu werden oder zumindest den Grad der Abhängigkeit beim Gas auf ein vertretbares Maß zu reduzieren, das wird Jahre dauern. Erste Kurzstudien aus der Wissenschaft halten die Folgen einen deutschen Ausstiegs für kalkulierbar, gestehen aber ein, dass nicht alle Eventualitäten beherrschbar sind. 

Sozial und wirtschaftlich überfordert die aktuelle Situation schon jetzt einzelne Gruppen. Pendler, einkommensschwache Familien aber auch das gesamte Transportgewerbe werden überproportional von den gestiegenen Energiepreisen getroffen. Stahlindustrie und Glashütten ebenso. Würde ein Bezugsboykott die Preise von Diesel, Gas und Heizöl weiter nach oben treiben? Falls ja: Über welche Steigerung reden wir? Über welchen Zeitraum? Eine der zentralen Fragen der wissenschaftlichen Erwägungen über die Risiken ist die Frage, wie kalt und wie lange andauernd der nächste Winter wird. 

Die Bedenken der Bundesregierung gegen die schnelle Abschaltung von Nord Stream 1 sind nachvollziehbar. Gesicherte Erkenntnisse über Preise und Mengen auf den Energiemärkten in den nächsten Monaten und Jahren gibt es ebenso wenig wie belastbare Berechnungen der ökonomischen Folgen. Mag der Krieg hoffentlich bald zu ende sein. Die Folgen des Angriffs werden unsere Politik noch in einem Jahrzehnt beeinflussen.

Die Kräfte des Marktes für Veränderungen nutzen

Das Bewusstsein der Krise in der Bevölkerung schafft den Raum, einen längst fälligen ökologischen Richtungswechsel anzugehen. 

Hubertus Grass, Kolumnist

Warum aber greift sie nicht auf, was auf der Hand liegt? Zum Beispiel ein Tempolimit auf 100 km/h nebst einer Reihe von autofreien Sonntagen. Das kann befristet bis zum Jahresende geschehen und sollte wissenschaftlich begleitet werden. So kann die FDP ihr Gesicht wahren und bekommt Gelegenheit, über ihren Freiheitsbegriff nachzudenken. 

Wäre die Besonderheit der historischen Situation nicht auch dafür geschaffen, politische Initiativen auf den Weg zu bringen, die aus Gründen des Energie- und Klimaschutzes sinnvoll sind, denen es zuvor aber an Akzeptanz mangelte? Unsere Ernährung und insbesondere unser Fleischkonsum gehören jetzt auf die Tagesordnung. Über 50 Prozent der agrarischen Flächen dienen dem Anbau von Futtermitteln. Bei der Tierproduktion gehen ca. 90 Prozent der Energie verloren, die ursprünglich in den Lebensmitteln enthalten waren. Energetisch können wir uns diese Form der Nahrungsmittel-Produktion nicht erlauben. Auch gesundheitspolitisch nicht, denn zu viel Fleisch macht krank. Fleischproduktion schadet dem Klima, den Gewässern und verhindert Stoffkreisläufe. Fleischproduktion ist die Hauptursache für das Verschwinden der Regenwälder. Und statt Tierfutter könnten wir auf den frei werdenden landwirtschaftlichen Flächen Wind- und Sonnenenergie ernten, die wir dringender denn je brauchen. Eine Bundesregierung, die gleichsam rational wirtschaftlich steuert und über die Zusammenhänge aufklärt, hätte jetzt Chancen längst fällige radikale Änderungen wie ein Tempolimit und eine drastische Reduzierung des Fleischkonsums auf den Weg zu bringen. 

Auch gilt es jetzt, die Kräfte des Marktes zu nutzen. Der Sprit und das Gas zu teuer? Es ist Sache der Konsumenten und Unternehmen, darauf zu reagieren. Das Kartellamt sollte sich die Mineralölkonzerne vornehmen und ihnen die Kriegsdividenden entziehen.

Der Staat kann und muss die finanziell Schwachen schützen. Aber er sollte nicht Berufspendlern, SUV-Fahrern oder Spediteuren unter die Arme greifen. Weniger Individualverkehr, sparsame Autos, weniger Lkw-Transport – dafür wird jetzt die Krise sorgen. Ökologisch wäre das gut und wirtschaftlich verkraftbar. 

Eine dreifache Krise ist keine Zeit für wirtschaftliche Experimente. Das Bewusstsein der Krise in der Bevölkerung schafft aber den Raum, einen längst fälligen ökologischen Richtungswechsel anzugehen. 

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