Champagner oder Brause? Die Rolle des Wasserstoffs in der Energiewende

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Redaktion

Stiftung Energie & Klimaschutz
08. Dezember 2021

Stand heute liegt die Produktionskapazität von Wasserstoff in Deutschland bei insgesamt 57 Terrawattstunden.

Es wird nicht genug grünen Wasserstoff geben in diesem Jahrzehnt. Das sind die schlechten Nachrichten. Der Bedarf liegt im Jahr 2030 bei voraussichtlich 80 Terrawattstunden und wird damit größer sein als das Angebot. Stand heute liegt die Produktionskapazität von Wasserstoff in Deutschland bei insgesamt 57 Terrawattstunden. Dieser Wasserstoff entsteht fast vollständig aus fossilen Energieträgern. Für die grüne Welle muss also die Hochlaufkurve von Null beginnend steil bergauf gehen. Ebenso braucht es eine internationale Wasserstoffwirtschaft mit zuverlässigen Handelspartnern und funktionierenden Strukturen.

Fakt ist: Wasserstoff wird zu einer wichtigen neuen Säule der Energiewende. Blicken wir weiter in die Zukunft – ins Jahr 2050 – liegen die Prognosen für die erforderlichen Mengen bei über 800 Terrawattstunden, allein für Deutschland. Das sind immense Anforderungen und dafür braucht es eine klare Strategie und Maßnahmen, die schon heute realisiert werden. Anders wird das Ziel einer klimaneutralen Zukunft nicht erreicht werden können. Wissenschaftliche Studien, die im zweiten Halbjahr 2021 veröffentlicht wurden, geben neue Impulse, den Blick auf die gerade erst entstehende nationale und internationale Wasserstoffwirtschaft zu schärfen und konkrete Handlungsempfehlungen daraus abzuleiten.

Studien und Szenarien aus der Wissenschaft

Mit Blick auf die im Koalitionsvertrag formulierten Ziele (siehe unten) und den in der Studienlage dargestellten Zeitdruck zum Handeln hat die neue Bundesregierung große Aufgaben. Neuigkeiten aus der Wissenschaft gab es in jüngster Zeit u.a. von Agora Energiewende und einem Kopernikus-Konsortium. In einem Kurzdossier im Kopernikus-Projekt Ariadne haben Autor*innen u.a. aus dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung sowie der TU Darmstadt Szenarien und Pfade im Modellvergleich vorgestellt, wie sich der Weg hin zum klimaneutralen Land bis 2045 gestalten könnte. Konkrete Vorschläge zur Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen hat Agora Energiewende erarbeitet, unter dem Titel “Making renewable hydrogen cost-competitive”. Dort heißt es, dass diese Wettbewerbsfähigkeit von grünem Wasserstoff derzeit nicht gegeben ist. Die Frage bleibt bestehen, ob die angekündigte Hochlaufkurve in diesem Jahrzehnt klimaschutzwirksam wird oder nicht.

Dem Ariadne Kurzdossier ist zu entnehmen: “Die Entwicklung der Technologien um grünen Wasserstoff und E-Fuels steht zwar noch am Anfang, hat aber ebenfalls großes Innovationspotenzial”. Entsprechend motivierend ist der Untertitel des Dossiers formuliert: “Durchstarten trotz Unsicherheiten: Eckpunkte einer anpassungsfähigen Wasserstoffstrategie”. Deutlich wird: In den 2020er Jahren werden wir – vermutlich – zunächst  blauen Wasserstoff und türkisen Wasserstoff als Brückenfunktion erleben. Diese Wasserstoff-Sorten – grundsätzlich immer farblos – sind im Gegensatz zum grünen Wasserstoff nicht ausschließlich mit erneuerbaren Energien hergestellt und werden in den 2020er Jahren eine Hochlaufkurve erfahren.

Koalitionsvertrag setzt Ziele zu Wasserstoff

Gut ist, dass es nicht nur neue Handreichungen aus der Forschung gibt. Auch die neue Bundesregierung stellt die Weichen für angepasste, dringend benötigte politische Rahmenbedingungen. Im Koalitionsvertrag wird die Rolle des grünen Wasserstoffs thematisiert und zum Bestandteil der Ziele der neuen Bundesregierung gemacht. Es heißt im Koalitionsvertrag mitunter: „So wollen wir bis 2030 Leitmarkt für Wasserstofftechnologien werden und dafür ein ambitioniertes Update der nationalen Wasserstoffstrategie erarbeiten.“ Aber: Insgesamt wird es bis 2030 nur ein Bruchteil der in Europa erforderlichen Energiemenge sein, die mit grünem Wasserstoff als Energieträger gedeckt wird. Sieht so ein Leitmarkt aus? Und was genau steckt hinter der Idee eines Leitmarkts?

Was die neue Bundesregierung in Sachen Wasserstoff erreichen will

Die neue Bundesregierung sieht vor, bis 2030 eine Elektrolysekapazität von rund zehn Gigawatt zu erreichen, vorrangig durch den Zubau von Offshore-Windenergie sowie Energiepartnerschaften auf europäischer und internationaler Ebene. Dazu gehören „die notwendigen Rahmenbedingungen einschließlich effizient gestalteter Förderprogramme“. Weitere Vorhaben der künftigen Ampelregierung sind, unter anderem:

  • Die Berücksichtigung der klimapolitischen Auswirkungen beim Import von Wasserstoff
  • Die Beschleunigung von Planungs- und Genehmigungsverfahren für eine schnellere Realisierung von Strom- und Wasserstoffnetzen
  • Eine Energiepartnerschaft mit der Ukraine u.a. zur Produktion von Grünem Wasserstoff und zugleich
  • Eine stärkere Zusammenarbeit mit Russland ebenfalls im Kontext Wasserstoff

Weitere internationale Verbindungen wurden bereits initiiert. Im Sommer 2021 hat unter anderem die damalige Wissenschaftsministerin Anja Karliczek eine Absichtserklärung unterzeichnet, gemeinsam mit Namibia eine Wasserstoffpartnerschaft aufzubauen.

Die Wasserstoff-Wirtschaft kann nur international organisiert funktionieren

Das Ergebnis der Wasserstoff-Debatte ist abhängig von einem engen Austausch und weltweit produktiver Zusammenarbeit zwischen Regierungen und Industrieunternehmen. Denn große Mengen des erforderlichen, grünen Wasserstoffs müssen importiert werden, nicht nur in diesem Jahrzehnt, sondern auch in den Folgejahren. Zur Verdeutlichung: im Raum stehen bis zu 800 benötigte Terrawattstunden an grünem Wasserstoff in Deutschland.

Insofern hängt der Erfolg in großem Maße auch davon ab, die internationale Klimaschutz-Debatte der Regierungen auch als multilaterales Konsortium zu führen: Dieses Konsortium muss die nachhaltige Produktion von grünem Wasserstoff, die Umwandlung in transportfähiges Flüssiggas und den Welthandel als langfristig funktionierendes Gesamtkonzept kreieren. Hier kann und muss die Bundesregierung Pflöcke setzen. Die Erwartungen an die zuständigen Fachreferate im Energie- und Wirtschaftsministerium von Vizekanzler Habeck sowie auch an die neue Bundesaußenministerin Annalena Baerbock als Stimme für den internationalen Klimaschutz sind hoch.

Landesregierungen legen Roadmaps vor

Erfreulich ist: die Landesregierungen sind in den vergangenen zwölf Monaten weitergekommen in der Gestaltung ihrer Wasserstoffwirtschaft. In Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen und Hamburg haben die verantwortlichen Ministerien unter Einbindung der Wirtschaft in unterschiedlichen Stakeholder-Prozessen entsprechende Wasserstoff-Strategien erarbeitet. Über die Roadmap in Baden-Württemberg berichtete bereits Staatssekretär Dr. Andre Baumann in seinem Gastbeitrag sowie live beim Debatten-Abend am 30. November. Im Fall von NRW liegt eine Wasserstoff-Roadmap schon seit Herbst 2020 vor und wurde im Herbst 2021 ergänzt um die Carbon Management Strategie des Landes. Für Hamburg und Region gibt es mitunter eine Wasserstoff-Landkarte, die einen Einblick in schon vorhandene Infrastrukturen gibt, die für eine funktionierende Wasserstoffwirtschaft das A und O sind.

Industriestandorte werden zum Wasserstoff-Treiber

Neben den politischen Akteuren ist auch die Industrie aktiv. Die Stadt Duisburg versteht sich als Dreh- und Angelpunkt in Europa für die entstehende Wasserstoffwirtschaft. Der US-Konzern Plug Power wird die neue Europazentrale bauen und dort einen der großen Elektrolyseure für Wasserstoff etablieren. Ein wichtiger Schritt für die Region, um die Transformation von der fossilen Energieumwandlung hin zur grünen bzw. grüneren Energielandschaft im Ruhrgebiet umzugestalten. “Bereits im September wurde Duisburg zu einer der deutschen Wasserstofftechnik-Hauptstädte gekürt”, hieß es dazu weiter in Presseveröffentlichungen. Die Stahlindustrie, die am Standort Ruhrgebiet europaweit einzigartig ist, beteiligt sich an der Transformation. Das größte Stahl-Unternehmen Thyssen-Krupp will “[m]it Wasserstoff zur klimaneutralen Stahlproduktion” kommen.

Ohne wettbewerbsfähige Angebote holen sich die Automobilindustrie und andere Branchen den grünen Stahl aus dem Ausland. Wirtschaftsvertreter appellieren an die Bundesregierung, die entsprechenden regulatorischen und finanziellen Rahmenbedingungen zu schaffen, um die grüne Produktion von Grundstoffen wie Stahl hierzulande weiter wettbewerbsfähig ermöglichen zu können.

Die Wasserstoff-Brennstoffzelle im PKW hat sich nicht durchgesetzt

Allmählich ist die Wasserstoff-Debatte rund um den PKW-Individualverkehr ruhiger geworden. Noch gibt es die Stimmen, dass auch Wasserstoff-betriebene Autos uns künftig vermehrt von A nach B bringen – ob mit oder ohne Tempolimit. Aber die Aussicht auf eine Hochlaufkurve dieser Art ist immer mehr anzuzweifeln mit Blick auf die hohen Zahlen der Neuzulassungen und den immensen Ausbau der Ladeinfrastruktur für Elektroautos in 2021. Aber: Wasserstoff wird dennoch auch für die Mobilität zum relevanten Energieträger der Zukunft, so in den Bereichen Güter- und Schwerverkehr. Daimler und Total vermeldeten jüngst ihre Kooperation und das Vorhaben eine Infrastruktur zu entwickeln, die für den stärkeren Einsatz wasserstoffbetriebener Zugfahrzeuge einen Beitrag leisten soll.

Wärmepumpe oder Erdgas-Wasserstoff-Mix

Im Anwendungsfeld der Wohnungswirtschaft ist bis dato nicht eindeutig geklärt, wann öffentliche oder private Gebäude mit Anschluss an die Fernwärmeleitungen mit einem Erdgas-Wasserstoff-Mix versorgt werden. Ein vollständiger Umbau der Heizsysteme in ganz Deutschland auf Wärmepumpen ist im Gebäudebestand ein ambitioniertes Ziel. Ein Problem liegt in der technischen Umsetzung, die mancherorts kaum realisierbar ist. Und nicht nur das technische Umrüsten ist ein Zeit- und Kostenfaktor, sondern auch die Kosten für die Elektrolyse und Wirkungsgradverluste schlagen zu Buche. Soll am Ende der Konsument die Rechnung für grüne Wärme aus Wasserstoff zahlen? Wäre da nicht doch die Wärmepumpe die nachhaltigere und wirtschaftlichere Lösung? Wie so oft: „Hängt davon ab“. Antworten auf diese offene Frage suchen derzeit zahlreiche Expert*innen u.a. mit Modellprojekten und in Reallaboren.

Der Konflikt aus Verteilung, Kostenverschiebungen und dem Anspruch einer sozialen Energiewende ist immer wieder thematisiert worden. So erfolgte ein Schlagabtausch zwischen der Deutschen Unternehmensinitiative Energieeffizienz (Deneff) und dem Bundesverband deutscher Wohnungs- und Immobilienunternehmen (GdW). Während die Deneff Wasserstoff zur Verwendung der Wärmeerzeugung in Wohnräumen vollkommen abwegig darstellt, argumentiert der GdW mit entsprechenden Lösungen, die in Pilotprojekten wie in Esslingen bei Stuttgart bereits in der Praxis  erprobt wurden. Im Kern ist es eine Frage der Kosten und der nachhaltigen Bewirtschaftung.

Themenschwerpunkt Wasserstoff von Dezember bis Februar

Welche Anwendungsfelder werden innerhalb der nächsten Jahre vorrangig wertvolle Wasserstoff-Mengen beanspruchen?

Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen gibt die Stiftung Energie & Klimaschutz den Expertinnen und Experten aus der Wasserstoff-Debatte von Dezember bis Februar eine Bühne, um auf Details einzugehen und unterschiedliche Perspektiven darzustellen.

Als Auftakt gab unser Debatten-Abend als Livestream allen Interessierten die Gelegenheit, ins Thema einzutauchen und auch über den Chat an der Diskussion teilzuhaben. Hier geht es zur Aufzeichnung.

Darüber hinaus werden für die nächsten Wochen vielfältige Perspektiven aus Forschung, Industrie und Politik in den Fokus gerückt – in Form von Gastbeiträgen sowie einer neuen Podcast-Episode.

Beantworten möchten wir mit diesem Themenschwerpunkt zahlreiche Fragen, im Kern: Welche Anwendungsfelder werden innerhalb der nächsten Jahre vorrangig wertvolle Wasserstoff-Mengen beanspruchen? Dies ist Gegenstand der schärfsten Debatten zum Wasserstoff: Ein Verteilungskampf ist heute schon zu erahnen. Werden Wasserstoffressourcen in die die Chemieindustrie und die Stahlbranche fließen oder  werden auch andere Anwendungsfeldern wie die Wohnungswirtschaft und der Schwerlastverkehr beteiligt? Welche Behörde reguliert das Energiesystem für Strom und Wärme  unter Einbindung der neu entstehenden Wasserstoffwirtschaft?

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