Das Problem ist riesig und lässt sich nicht kleinreden. Das stellte Sibylle Stippler, Leiterin des Clusters Berufliche Qualifizierung und Fachkräfte am Institut der deutschen Wirtschaft (IW), gleich zu Beginn des Debattenabends klar. Eine vom IW erstellte Studie in den Branchen Wind- und Solarwirtschaft ermittelte, dass 216.000 Arbeitskräfte fehlen – Schwerpunkt dabei die Berufe der Elektrik und Elektronik. Dieses Problem, so Christian Rauch von der Regionaldirektion Baden-Württemberg der Bundesagentur für Arbeit (BA), werde sich in den nächsten Jahren noch weiter zuspitzen. Gründe seien die vermehrte Nachfrage einerseits und der demographische Wandel anderseits. Klimaschutzziele und Fachkräftemangel: Droht hier ein unüberwindliches Hindernis?
Zusätzliches Problem: Die Industrie kann nicht liefern
Die Hälfte der heutigen Fachkräfte gehe bis 2040 in Rente. Auch durch eine höhere Ausbildungsquote, so Rauch, lasse sich dieser Abgang nicht kompensieren. Es gibt zu wenige junge Menschen. Dem pflichtete der Präsident des Baden-Württembergischen Handwerkstags e.V., Rainer Reichhold, bei. Zwar könne Dank einer leicht ansteigenden Zahl von Auszubildenden das normale Geschäft im Neubau und in der Reparatur aufrecht erhalten werden. Die durch den Klimaschutz notwendige Steigerung der Umstellung auf CO2-freie Technologie im Gebäudebestand sei personell aber nicht zu leisten.
Zusätzlich, so Reichhold, fehle es an Material. Wer heute einen Wechselrichter, eine Batterie oder einen Pufferspeicher benötige, müsse auf unbestimmte Zeit vertröstet werden. Weder könnten die Handwerksbetriebe sagen, wann die Geräte eintreffen, noch Preise nennen.
Personalmarkt im Umbruch
Ob ein Unternehmen attraktiv ist, entscheide sich nicht wie früher hauptsächlich an der Frage des Geldes. Nachgefragt würde familienfreundliche Rahmenbedingungen wie Teilzeit, die Möglichkeit zum Home Office und auch die Sinnstiftung der beruflichen Tätigkeit.
Carina Verlohr leitet den Bereich Human Resources Geschäftsentwicklung & Lösungen bei der EnBW AG. Selbst ein großes Unternehmen wie die EnBW, berichtete sie, spüre den Fachkräftemangel auf allen Ebenen. Man befinde sich in einer starken und internationalen Konkurrenzsituation. So sei in allen Branchen und Nationen der Bedarf an IT-Ingenieurinnen hoch und in absehbarer Zeit nicht zu decken.
Ob ein Unternehmen attraktiv ist, entscheide sich nicht wie früher hauptsächlich an der Frage des Geldes. Nachgefragt würde familienfreundliche Rahmenbedingungen wie Teilzeit, die Möglichkeit zum Home Office und auch die Sinnstiftung der beruflichen Tätigkeit. Als Fachkraft daran mitzuwirken, die Klimaziele zu erreichen, sei ein Aspekt, dessen Bedeutung für die Berufswahl wachse.
Das seit vielen Jahren verfolgte Ziel, mehr Frauen in MINT-Berufe zu locken, sei nicht vom durchschlagenden Erfolg gekrönt gewesen, meinte Christian Rauch. Nach wie vor seien Frauen in technischen Studiengängen unterrepräsentiert. Und in Berufsschulklassen der Sanitär-Heizungs-Klima-Branche könne eine junge Frau einsam sein.
Insgesamt habe der Anteil der Frauen in Beschäftigung zwar zugenommen, aber nach wie vor gebe es hier noch ein großes Potential. Viele Frauen würden in deshalb in Teilzeit arbeiten, weil die Kinderbetreuung nicht gewährleistet sei. Hier bedinge ein Mangel den nächsten. Weil es an Erzieherinnen und Erziehern fehlt, könnten Frauen entweder nur einer eingeschränkten Beschäftigung nachgehen oder sich nicht qualifizieren.
Kann Zuwanderung den Fachkräftemangel lindern?
Fazit: Uns fehle vieles, was ein attraktives Einwanderungsland ausmache. Auch der politische Wille?
Politisch hoch umstritten sind einige Maßnahmen, die die Fachkräftestrategie der Bundesregierung vorsieht. Im Fokus der Kritik steht die Reform des Einwanderungsrechtes. Die deutsche Staatsbürgerschaft, so Stimmen aus der Opposition, dürfe nicht „verramscht“ werden.
Auf dem Podium des Debattenabends herrschte dagegen Einigkeit in dieser Frage. Zunächst sei zu konstatieren, dass Deutschland im internationalen Wettbewerb um die Fachkräfte in einer guten Position sei. Sibylle Stippler verwies auf die veränderte Situation in der EU. Auch in anderen Ländern habe der demographische Wandel dafür gesorgt, dass junge Menschen auf den heimischen Arbeitsmärkten attraktive Bedingungen vorfinden würden.
Und, ergänzte Christian Rauch, die klassischen Einwanderungsländer wären Deutschland im Wettbewerb überlegen. Wir hätten es bis heute nicht verstanden, dass man sich in die potentielle Einwanderin hineinversetzen müsse, um für einen guten Start in Beruf und soziale Integration zu sorgen. Wenn wir erfolgreich um junge Menschen werben wollten, müssten wir runter vom hohen bürokratischen Ross und Perspektiven bieten, die über eine feste Anstellung hinaus gingen.
Dem pflichtete Carina Verlohr bei. Der bürokratische Aufwand, Menschen aus Ländern außerhalb der EU für eine Tätigkeit zu gewinnen, sei enorm hoch. Und innerhalb der EU sei es aus Gründen des Steuerrechts noch nicht einmal möglich, im Home Office dauerhaft aus dem Ausland zu arbeiten.
Wir müssen, so Rainer Reichhold, dafür sorgen, dass sich die Menschen bei uns wohl fühlen. Dazu gehöre die Bereitstellung von Wohnraum ebenso wie ein Platz im Kindergarten sowie Formulare, die ein Ausländer lesen und verstehen könnte. In den Ämtern wie auch in manchen Unternehmen habe sich noch nicht herumgesprochen, dass Deutsch keine Weltsprache sei.
Aufzeichnung des Livestreams
Zertifikat wichtiger als Kompetenz
Was ist eine Fachkraft? In Deutschland ist das klar geregelt. Man hat ein Zertifikat als Abschluss der dualen Ausbildung oder einer Hochschule. Wer aus dem Ausland kommend nicht exakt diesen Ansprüchen genügen kann, ist vom Stand der Berufsbildung her gesehen ungelernt. Selbst dann, wenn die Person schon 10 Jahre als Elektriker oder Dachdecker gearbeitet hat.
Manche Unternehmerinnen würden gerne jenseits solcher formalen Standards die Kompetenzen von Kandidatinnen und Kandidaten genauer unter die Lupe nehmen. Das, so Rainer Reichhold, erlaube aber die bestehende Gesetzeslage nicht. Auch sei es unmöglich für eine – mit Zertifikat – ausgestattete Fachkraft, aus einem Drittstaat nach Deutschland mit Partnern überzusiedeln. Dass Fachkräfte Familie haben, sehe die Fachkräftestrategie nicht vor.
In Summe überwog auf dem – von Alexandra von Lingen glänzend moderierten – Podium die Skepsis. Selbst, wenn es schnell gelänge mehr junge Menschen für eine berufliche Tätigkeit in der Energiewende zu gewinnen, vergingen 4 bis 5 Jahre, bis diese Personen einen vollwertigen Beitrag leisten könnten. Im Hinblick auf die Ausbauziele der Erneuerbaren sowie die Klimaschutzziele 2030 sei das zu spät. Wir müssen uns wohl mehr einfallen lassen, damit die Einhaltung der Klimaschutzziele nicht am Fachkräftemangel scheitert.
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