Flexibilität, Dekarbonisierung, Energiesicherheit – der „Elephant in the room“ ist die Wärme – Teil 1

Gastautor Portrait

Dr. Constanze Adolf

Senior Partner, Christ & Company

Dr. Constanze Adolf baut als Senior Partner bei der Berliner Beratung Christ & Company den neuen Geschäftsbereich Energy & EU Affairs auf, um Unternehmen bei Themen rund um Energie – und Klimapolitik an der Schnittstelle zur EU-Politik in der Transformation zu begleiten. Zuvor war sie über 12 Jahre in leitender Funktion in Brüssel tätig. Zuletzt war sie Head of Business Development beim Energiespeicher Start-up LUMENION in Berlin. Dort hat sie den Markthochlauf der LUMENION Hochtemperatur-Stahlspeichertechnologie mit vorangetrieben und leitete die Arbeitsgruppe Thermische Energiespeicher beim Bundesverband für Energiespeichersystem e.V.

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21. September 2022
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Eine noch offene Frage ist, wie sich dieser Winter aufgrund der weiterhin kaum kalkulierbaren Gas- und Strompreise entwickelt und was im Winter 23/24 passiert.

Dr. Constanze Adolf

Vielleicht avanciert das Wort „Speicherfüllstand“ zum Wort des Jahres 2022? Fest steht, dass „Speicherfüllstand“ zu einem Schlüsselwort geworden ist, an dem sich zurzeit wirtschaftliche Konjunkturaussichten und politische Maßnahmen orientieren. Diskussionen um den sozialen Frieden hängen maßgeblich mit der Beantwortung der Frage zusammen, wie die Versorgungssicherheit als Grundlage wirtschaftlichen Handelns und der Deckung gesellschaftlicher Grundbedürfnisse definiert und gewährleistet werden kann.

Eine ebenfalls noch offene Frage ist, wie sich dieser Winter aufgrund der weiterhin kaum kalkulierbaren Gas- und Strompreise entwickelt und was im Winter 23/24 passiert. Laut dem am 09.09.2022 veröffentlichten Strombarometer von Eurelectric, dem europäischen Dachverband der Elektrizitätsindustrie, stiegen die Strompreise auf dem Großhandelsmarkt zwischen Januar 2021 und August 2022 um 532 Prozent.

Die wirtschaftlichen und geopolitischen Interdependenzen im Energiesektor liegen offener denn ja auf dem Tisch: zum großen Teil auf nationalstaatlicher Ebene reguliert, soll ein europäischer Energiemarkt verwirklicht werden, der in Krisenzeiten seine regulatorischen Schieflagen zutage bringt.

Die gute Nachricht: Bereits im September 2022 hat Deutschland und auch die EU ihre gesetzlichen Ziele zur Befüllung der Gasspeicher mit 88 Prozent übererfüllt. Die gesetzliche Vorgabe gibt einen Speicherfüllstand von 85 Prozent zum 1. Oktober 2022 vor (Bundesnetzagentur Stand 13.09.2022).

Eine zweite gute Nachricht ist, dass das Wort „Speicher“ mittlerweile in aller Munde ist. „Speicher“ wird dabei allerdings zumeist mit Gasspeichern gleichgesetzt und bleibt damit in der fossilen Energiewelt verhaftet. Wenig wird über die enormen Chancen gesprochen, die unterschiedliche Speichertechnologien bereits heute leisten, um das Energiesystem zu stabilisieren und durch die Integration von erneuerbaren Energien zu dekarbonisieren. Zu nennen sei der Verkehrssektor, der seit kurzem enorme Transformationsschübe in Richtung E-Mobilität verzeichnet.

Die Verwirklichung der Energiewende ist daher dringlicher denn je. Die Kombination aus Effizienzsteigerung, erneuerbarer Energieerzeugung, Energiespeicherung und Abwärmenutzung ermöglicht die effiziente Dekarbonisierung des Wärmesektors in allen Sektoren.

Thermische Energiespeicher adressieren den Elefanten im Raum

Mehr als 50 Prozent des bundesdeutschen Energieverbrauchs entfällt auf den Wärmesektor. Ob Prozesswärme, Nah- oder Fernwärmeversorgung, es betrifft sowohl Deutschland als Industriestandort als auch die Gesellschaft in ihren täglichen Grundbedürfnissen (Warmwasser, Heizung usw.)

Es ist der Wärmesektor, der vor besonderen Herausforderungen steht: Bis spätestens 2045 muss Wärme klimaneutral sein. Bisher wird die Wärmeenergie in Deutschland zu 83,5% mit fossilen Brennstoffen gedeckt. In einem Energiesystem, das bis 2030 80% erneuerbare Energien integrieren will, spielen daher Speichertechnologien, besonders zur Dekarbonisierung von Prozessdampf, Wärmenetzen, Quartieren und Gebäuden eine besonders wichtige Rolle.

Die Energiewende wird bisher vornehmlich als Stromwende diskutiert. Gäbe es einen passenderen Zeitpunkt als sie jetzt auch als Wärme- oder Verkehrswende zu verwirklichen? Denn nur alle Sektoren zusammen können erfolgreich dazu beitragen, ein unabhängiges, CO2-freies und versorgungssicheres Energiesystem zu bauen.

Anteil erneuerbarer Energien in Deutschland (Strom, Wärme, Verkehr) 1990-2021.

Quelle: Umweltbundesdamt auf Basis der AGEE-Statistik

Unterschiedliche Betriebsmodi für unterschiedliche Bedürfnisse – aber ein gemeinsames Ziel: Dekarbonisierung, Flexibilität und Unabhängigkeit

Hauptsächliche Treiber für die Nachfrage nach thermischen Speichern waren bisher Dekarbonisierungsziele. Heute tritt allerdings vermehrt die ökonomische Motivation mit auf den Plan [...]

Dr. Constanze Adolf

Die Lösung liegt schon seit langem auf dem Tisch: Thermische Energiespeicher tragen dazu bei, den wachsenden Anteil erneuerbarer Energien in die Wärmeversorgung zu integrieren. Für die Dekarbonisierung der Industrie können sie einen erheblichen Beitrag leisten. Sie liefern Prozesswärme und machen Abwärme nutzbar. Für Versorger dekarbonisieren sie die Wärme und das Warmwasser, z.B. in Nah- und Fernwärmesystemen.

Ein Beispiel: In Betriebsmodi wie Power-to-Heat oder Power-to-Heat-to-Power wird Strom aus erneuerbaren Energien eingespeichert und dem Wärme- oder Stromsektor zeitversetzt und bedarfsgerecht zugeführt. So lassen sich erneuerbare Erzeugungsspitzen flexibel und sektorenübergreifend als CO2-freier Prozessdampf für die Industrie oder zur Dekarbonisierung von Wärmenetzen, Quartieren und Gebäuden nutzen.

Diese Fahrweisen schlagen sich in der Regel unmittelbar auf den Business Case nieder: Erneuerbare Erzeugungsanlagen produzieren im Schnitt 2.000 Stunden Strom per anno. Thermische Energiespeicher ‚parken‘ diese Energie und strecken ihre Nutzungsdauer auf das ganze Jahr – 8.760 Stunden. Das Geschäftsmodell ermöglicht es, Unternehmen, Versorgern und Verbraucherinnen ihre Energiebezugskosten zu mindern, da immer dann eingespeichert wird, wenn der Strompreis besonders günstig oder gar negativ ist. Mit anderen Worten: bei dem Unterschreiten eines vorher festgelegten Strompreises an der Börse, sprich, wenn viel Erneuerbare einspeisen, dann lädt der Speicher. Bei Überschreiten dieses Preises hört er auf zu laden. Die Systeme sind normalerweise echtzeitgesteuert und damit hochflexibel. Diese Flexibilität bezieht sich allerdings nicht nur auf das Einspeisen, sondern auch auf das Ausspeisen, so dass unterschiedliche Produktions- bzw. Bedarfsmodi der Abnehmer bedient werden. So kann man Preissignale des Marktes nutzen und sich gleichzeitig gegen steigende CO2-Kosten absichern. Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Anwendungsfällen – von Industrie- und Kraftwerksstandorten bis zum Einfamilienhaus.

Neben der Power-to-Heat Lösung gibt es auch die Möglichkeit der direkten Wärmespeicherung z.B. von Abwärme oder von Wärme aus konzentrierender Solarthermie. Die Speichermedien wie Wasser, Stahl, Flüssigsalze, Keramik, Vulkangestein, Thermoöl oder Phasenwechselmaterialien sind genauso vielfältig wie die Anwendungen. Dabei wird schon deutlich, dass es zukünftig nicht mehr nur die eine technologische Lösung geben wird, sondern maßgeschneiderte Anlagen, die vom Kältespeicher bis hin zum Hochtemperaturspeicher mit Speichertemperaturen von bis zu über 1.000 Grad reichen. Zukünftig kann keine einzelne Technologie mehr für den Erfolg der Energiewende garantieren. Vielmehr wird ein Technologiemix unterschiedlicher Komponenten für eine systemische Integration erneuerbarer Energiequellen gewährleisten und diese auf industriellem Niveau verfügbar machen. Dieser systemische Blick fokussiert auf die Anwendung und optimiert die Technologien auf den Einsatzzweck.

Hauptsächliche Treiber für die Nachfrage nach thermischen Speichern waren bisher Dekarbonisierungsziele. Heute tritt allerdings vermehrt die ökonomische Motivation mit auf den Plan: Durch die enorme Kostendegression der Erneuerbaren und durch die Flexibilisierungsmechanismen neben den steigenden CO2-Preisen werden thermische Speicher ökonomisch immer relevanter, um sich autarker aufzustellen und damit die Versorgungssicherheit zu erhöhen.

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