Viele aktuelle Fragestellungen der Energiewende sind nach vielen Jahrzehnten der Energieforschung keine techno-ökonomischen Baustellen mehr, sondern Umsetzungsfragen.
Viele aktuelle Fragestellungen der Energiewende sind nach vielen Jahrzehnten der Energieforschung keine techno-ökonomischen Baustellen mehr, sondern Umsetzungsfragen: Wie bekommen wir die Konzepte in die Praxis? Welche Rückwirkungen gibt es in der Massenanwendung? Passen die Ideen zu den rechtlich-regulatorischen Rahmenbedingungen?
Die Größenordnung dieser Fragen macht deutlich, dass viele Konzepte häufig nicht mit dem derzeitigen regulatorischen Rahmen in Einklang stehen und/oder zu komplex für eine Erprobung im Labor sind. Auch die notwendige intensive Zusammenarbeit zwischen oft zahlreichen Akteuren sowie das gegenseitige Verständnis für die Prozesse der jeweils anderen lassen sich im Labor nur schwer simulieren. Viele der entwickelten Konzepte und Lösungen erfordern darüber hinaus eine Neustrukturierung der etablierten Rollenverständnisse und Aufgabenteilung der energiewirtschaftlichen Akteure. Um hier ein volkswirtschaftlich sinnvolles Ergebnis zu erhalten, ist Sacharbeit fernab von Partikularinteressen notwendig. In der Projektkonzipierung verhindert der Innovationscharakter der Konzepte mit seiner hohen Komplexität den „klassischen“ Wasserfallansatz. An seine Stelle tritt ein iterativer Ansatz mit einem ständigen Wechselspiel aus Konzipierung, Umsetzung und Review. All diese Aspekte sprechen gegen „klassische F&E-Projekte“ – es bedarf eines neuen Formats für den Transfer von zukunftsfähigen Konzepten in die Praxis.
Reallabore sind ein junges transformatives Forschungsformat, das seinen Ursprung in der transdisziplinären Nachhaltigkeitsforschung hat. Seine Konzeptualisierung befindet sich noch im Entstehungsprozess und eine allgemein akzeptierte Definition existiert bislang nicht [1], [2], [3]. Nach ersten Umsetzungen einer für Reallabore typischen Herangehensweise in den SINTEG- und Kopernikus-Projekten führte das BMWi Reallabore 2018 als Forschungs- und Förderformat ein. Es versteht diese als “Testräume für Innovation und Regulierung”, in denen Innovationen (Technologien, Produkte, Dienstleistungen oder Geschäftsmodelle), die mit dem bestehenden Rechts- und Regulierungsrahmen nur bedingt vereinbar sind, unter realen Bedingungen erprobt werden [4]. Mit diesem Fokus unterscheidet sich die politisch-regulatorische Definition des BMWi von wissenschaftlichen Definitionen, die stärker die transdisziplinäre und wissenschaftlich-zivilgesellschaftliche Kooperation sowie den Beitrag zu einer Nachhaltigkeitstransformation betonen [5], [6].
Reallabore ermöglichen die für eine erfolgreiche Energiewende notwendige Symbiose von wissenschaftsgestützter Konzipierung und direkter Anknüpfung an die Prozesse der Akteure im Realbetrieb. Basierend auf den Erfahrungen in SINTEG und Erkenntnissen aus den Begleitforschungen zu bestehenden Reallaboren lassen sich, obwohl das Format noch vergleichsweise jung ist, bereits best practices und states-of-the-art zur erfolgreichen Gestaltung eines Reallabors feststellen. Diese sind in Abbildung 1 dargestellt.
Viele der genannten Erfolgsfaktoren waren essenzieller Bestandteil der Arbeitsweise in C/sells. In dem Projekt gelang es, trotz einer Vielzahl von Akteuren und derer mitunter divergierenden Partikularinteressen, über ein gemeinsames Ziel und einen partizipativen Projektansatz eine „Allmende-Gemeinschaft“ zu entwickeln. Im folgenden Abschnitt wird anhand des Konzeptes “Partizipative Netzführung” ein konkreter Einblick in ein Reallabor gegeben.
Reallabore in der Praxis: Partizipative Netzführung
Das Konzept der “Partizipativen Netzführung” wurde im Rahmen von C/sells in Zusammenarbeit zahlreicher Projektpartner ein Konzept zur künftigen Ansteuerung von flexiblen Verbrauchern erprobt, die anschließend in den Verbandsgremien getragen wurde. Im Fokus stand die Flexibilisierung von Power-to-Heat-Anlagen [7]. Dazu wurden Mess- und Steuertechnik in Kundenanlagen installiert und Prognose- und Optimierungssysteme in anschließenden Feldversuchen aufgebaut. Neben der praktischen Erprobung konnte die Eignung der genutzten Infrastruktur der intelligenten Messsysteme sowie der Einsatz von Flexibilitätsplattformen durch die breite Diskussion im Konsortium umfassend bewertet werden [8].
Basierend auf Beiträgen der beteiligten Partner aus den verschiedenen Bereichen der Wertschöpfungskette wurde die Frage der Steuerung von Anlagen in der Niederspannung in einem Arbeitskreis aus Forschung, Übertragungs- und Verteilnetzbetreibern, Herstellern und Vermarktern weiterverfolgt. Ziel war die Ausgestaltung eines gemeinsamen Systemschaubildes, welches unter Einbeziehung der Erfahrungen aus den Feldversuchen sowie der Anforderungen der Stakeholder als Grundlage für die weitere Branchendiskussion dient. Eckpunkte der gemeinsamen Systemlandschaft waren der bei den Stadtwerken München bereits als Proof-Of-Concept realisierte “Digitalen Netzanschluss” als aktive Gegenstelle des Netzbetreibers im Gebäude sowie die Frage des veränderten Wirkprinzips, wonach anstatt der heute üblichen Einzelansteuerung von Anlagen künftig auf Gebäudeebene aggregiert wird [9]. Abbildung 2 zeigt die resultierende Systemlandschaft.
Das Format “Reallabor” bot den Rahmen für eine fach- und branchenübergreifende Arbeit zum Konzept der “Partizipativen Netzführung”. Es ermöglichte fundierte Grundlagenarbeit im Feld, die die Basis für die weitere Standardisierung der intelligenten Mess- und Steuerungsinfrastruktur darstellt.
Ausblick
Um ihr volles Potenzial als Katalysatoren für die Energiewende zu entfalten, müssen Reallabore als umfassende Testräume ausgestaltet werden. Idealerweise umfassen sie dann nicht nur technische Innovation und regulatorische Spielräume, sondern ermöglichen auch das Experimentieren mit der Governance neuer Konzepte und neuen Marktdesign-Ansätzen unter aktiver Einbeziehung gesellschaftlicher Akteure. Zusätzlich müssen die Reallabore der Energiewende deutlich enger mit anderen „Gewerken“ wie der Wohnungswirtschaft, der Industrie und insbesondere der Automobilbranche verzahnt werden. Das Verbundforschungsprojekt unIT-e² , ein gerade gestartetes Reallabor für die Mobilitäts- und Energiewende, fungiert hierzu als Blaupause.
Fußnoten
1 Die Bearbeitung der hier beschriebenen Inhalte erfolgte im Verbundprojekt C/sells. Die Aktivitäten im Verbundprojekt C/sells werden im Rahmen des Förderprogramms „Schaufenster intelligente Energie – Digitale Agenda für die Energiewende“ (Sinteg) des Bundesministeriums für Wirtschaft und Energie (BMWi) gefördert (Förderkennzeichen: 03SIN143(SWM), 03SIN121 (FfE)).
2 Das Projekt unIT-e² wird vom BMWi im Zuge des Förderaufruf „Wettbewerb Elektromobilität und Integration in das Energiesystem“ gefördert (Förderkennzeichen: 01MV21UN11 (FfE), 01MV21UN19 (SWM))
Literatur
- [1] Singer-Brodowski, Mandy et al.: Learning in Real-World Laboratories. A Systematic Impulse for Discussion. In: GAIA 27/S1. Berlin: Freie Universität Berlin, 2018.
- [2] Beecroft, Richard: Das Reallabor als transdisziplinärer Rahmen zur Unterstützung und Vernetzung von Lernzyklen. Dissertation. Herausgegeben durch Leuphana Universität Lüneburg, geprüft von Research, Transdisciplinary: Lüneburg, 2018.
- [3] McCrory, Gavin et al.: Sustainability-oriented labs in real-world contexts: An exploratory review. In: Journal of Cleaner Production Volume 277. Gothenburg: Chalmers University of Technology, 2020.
- [4] Freiräume für Innovationen – Das Handbuch für Reallabore. Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), 2019.
- [5] Rose, Michael et al.: Das Reallabor als Forschungsprozess und -infrastruktur für nachhaltige Entwicklung. Konzepte, Herausforderungen und Empfehlungen – NaWiKo Synthese Working Paper No. 1. Wuppertal: Fraunhofer ISI, 2018.
- [6] Schneidewind, Uwe et al.: Structure Matters: Real-World Laboratories as a New Type of Large-Scale Research Infrastructure. A Framework Inspired by Giddens’ Structuration Theory. In: GAIA 27/S1. Wuppertal: Wuppertal Institute for Climate, Environment and Energy, 2018.
- [7] Greif, Simon et al.: Flexibilisierung von Speicherheizungen mittels Smart-Meter-Infrastruktur. In: Energiewirtschaftliche Tagesfragen 70. Jg. (2020) Heft 7/8. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft (FfE) e. V., Stadtwerke München GmbH, 2020.
- [8] Zeiselmair, Andreas et al.: Digitalisierung, Flexibilitätsmarkt und Nachtspeicherheizungen – wie passt das zusammen? In: BWK 11/2020. Düsseldorf: VDI Fachmedien, 2020.
- [9] Weigand, Andreas et al.: Digitaler Netzanschluss – Schnittstelle zwischen Gebäude und Stromnetz neu gedacht. In: BWK Energie 05-06/2021. München: Stadtwerke München, 2021.
Über die Autor*innen
Simon Köppl
Projektleiter, FfE München
Simon Köppl ist seit 7 Jahren in der energiewirtschaftlichen Forschung tätig. An der FfE in München ist er Projektleiter von verschiedenen Projekten im Kontext von neuen Energiemärkten und intelligenten Stromnetzen (u.a. das SINTEG-Projekt C/sells und das Verbundprojekt unIT-e²). Durch die intensive Arbeit in Reallaboren wurde er zum großen Fan einer Kooperation auf Augenhöhe von Wissenschaft & Praxis und einer Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichsten Sektoren.
Kontakt über: www.linkedin.com/in/simon-köppl ; https://twitter.com/koeppl_simon
Andreas Weigand
Projektleiter, Stadtwerke München (SWM)
Hannah Dahmen
Werkstudentin, FfE München
Hannah Dahmen studiert im Master Sustainability Economics and Management an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg und arbeitet als Werkstudentin an der FfE in München, u.a. für das SINTEG-Projekt C/sells.
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