Europa – Kontinent im Umbruch. Der Regisseur Andreas Pichler im Interview.

Gastautor Portrait

Redaktion

Stiftung Energie & Klimaschutz
22. November 2022
NicoElNino/Shutterstock.com

Ende Juli 2022 führten wir dieses Interview mit Andreas Pichler, Regisseur und Leiter des Autoren-Teams der ARTE-Serie „Europa – Kontinent im Umbruch“. Die Veröffentlichung auf unserer Website erfolgt nun im Rahmen des aktuellen Themenschwerpunkts „Energie – soziales Gut“.

Ich glaube an Europa und ich glaube, dass wir dieses Europa stärker füllen müssen. Man müsste in unserem Erdteil, wenn man so will, in Zukunft eine Art Republik Europa sehen.

Andreas Pichler

Redaktion: Zum Einstieg eine Frage zu Ihnen persönlich. Welche Themen stehen für Sie und Ihr Team besonders im Mittelpunkt?

Andreas Pichler: Ich beschäftige mich mit sozialen, politischen und kulturellen Themen, also gesellschaftsrelevanten Inhalten.

Redaktion: Kommen wir zu Ihrer Reportagen-Serie. Sie trägt den Titel „Europa – Kontinent im Umbruch“ und ist noch bis Mai 2023 in der ARTE-Mediathek zu finden. Was ist Ihr persönlicher Bezug zu dieser Dokumentation?

Andreas Pichler: Mich interessiert es, Europa als Ganzes zu betrachten. Über den Kontinent entlang anderer Bruchlinien als den üblichen staatlichen zu erzählen – das hat mich am meisten fasziniert und war Ansporn für die Serie. Ich habe vor ein paar Jahren einen Film über Europa gedreht, wo es um den Ausverkauf von Natur und Kulturgütern ging. Und die Erfahrung hat gezeigt, dass es trotz aller Unterschiede in Europa durchaus Gemeinsamkeiten gibt, etwa im Kampf gegen diesen Ausverkauf. Diese Gemeinsamkeiten zu finden bzw. zu sehen – das hat mich für die neue Serie am meisten getriggert.

Redaktion: Hat sich dabei Ihr Blick auf unseren Kontinent verändert?

Andreas Pichler: Ich glaube an Europa und ich glaube, dass wir dieses Europa stärker füllen müssen. Man müsste in unserem Erdteil, wenn man so will, in Zukunft eine Art Republik Europa sehen. Das hat vielleicht auch mit meinem Background zu tun: Ich stamme aus Südtirol, bin in einer Grenzregion groß geworden. Für mich sind diese nationalstaatlichen Gliederungen immer eher als Problem präsent gewesen. Genau das war für mich ein Ansporn für die Serie: Ich glaube, dass wir in Europa Lösungen für alle möglichen Probleme haben. Der Ansatz war demnach: Wir zeigen nicht nur die Probleme auf, sondern auch die Lösungsansätze – quer über den Kontinent.

Redaktion: In welchem Zeitraum sind die Reportagen entstanden?

Andreas Pichler: Wir haben im Herbst 2019 begonnen. Wir waren ein Team aus fünf Leuten aus ganz Europa: Kollegen:innen aus Griechenland,  aus Schweden, Frankreich und dann am Ende auch noch ein Kollege aus Bulgarien. Das war toll. Zugleich war diese Zusammenarbeit notwendig, weil wir sonst kulturell gar nicht so nahe an konkrete Geschichten und Protagonist:innen herangekommen wären – wie beispielsweise im Balkan.

Diese zweieinhalb Jahre Arbeit  waren  insofern krass, weil sie von zwei globalen, einschneidenden Ereignissen geprägt waren. Wir hatten die Serie schon fast fertig geschrieben, als die Corona-Pandemie ausgebrochen ist. Und wir hatten die Serie mehr oder weniger fertig geschnitten, und drei Wochen später hat der Ukraine-Krieg begonnen. Am Anfang hat sich niemand von uns gedacht, dass wir uns als Team mit zwei so einschneidenden Ereignissen werden auseinandersetzen müssen. Und diese Veränderungen mit einzubauen, war ein ziemlich großer Kraftakt für alle.

Redaktion: Die Dokumentation wirkt hochaktuell. Als Zuschauer:in hat man den Eindruck, dass die verschiedenen Episoden den aktuellen Gegebenheiten folgen. Aber vermutlich liegt es in der Tragik, dass diese Gegebenheiten eben auch schon vor zwei, drei oder mehr Jahren da waren und jetzt noch mehr Brisanz bekommen haben, oder?

Andreas Pichler: Ja, genau. Ich glaube, die Themen, von denen die Serie handelt, sind heute genauso aktuell wie vor zwei Jahren, egal ob Corona oder Ukraine-Krieg, das Thema Klimawandel und teilweise auch Digitalisierung und Migration. Die Corona-Pandemie war so eine Art Stresstest für unsere Themen, und natürlich ist das dann mit eingeflossen – und am Ende sogar noch der Ukraine-Krieg, der die Spannungen nochmals verschärft hat. Es gibt in der Serie eine ganze Episode über Energie in Europa, über die Abhängigkeit Europas von nicht europäischer Energie. Das war schon vor dem Krieg für alle Leute klar, insbesondere Fachleute. Das hat der Ukraine-Krieg auf dramatische Weise noch einmal unterstrichen.

Redaktion: Es gibt sechs Folgen. Ernährung: Landwirtschaft, Energie, Mobilität, Digitalisierung, Menschen, Natur. Mit welcher sollte man einsteigen? 

Andreas Pichler: Man kann jede Folge einzeln anschauen, es ist keine aufeinander aufbauende Entwicklung. Wir wollten das ursprünglich, aber arte hat das dezidiert abgelehnt.

Redaktion: Gibt es denn eine der Reportagen, die in Ihrer Wahrnehmung aus irgendeinem Grund besonders herausragt, vom Thema her oder von der Aufbereitung?

Andreas Pichler: Eine schwierige Frage. Die Folgen über Energie und Migration haben einen stärkeren Bezug zur Aktualität. Ich finde die Episode über Landwirtschaft spannend. Die ist nicht so aktuell. Aber diese Folge ist in der Geschlossenheit, in der Dramaturgie und vom Storytelling her recht komplett. Sie zeigt eine denkbare, überraschende Entwicklung, wie wir womöglich künftig unsere Lebensmittel produzieren werden.

Die Episode über Digitalisierung und digitale Transformation ist insofern spannend, weil man im Moment weniger auf das Thema schaut. Diese Folge macht einem noch mal klar, wie wichtig und wie notwendig auch gerade in Europa bestimmte Maßnahmen sind, um die digitale Transformation auf eine spezielle, sagen wir, europäische Art und Weise voranzutreiben.

In dieser Blase, in der die meisten von uns in den großen, zentralen Städten leben, wird schnell vergessen, wie viele Teile von Europa auch ausgeschlossen von öffentlich verfügbarer Mobilität sind [...]

Andreas Pichler

Redaktion: Gab es denn innerhalb der Themen irgendwas, was Sie besonders überrascht, beflügelt oder sogar bestürzt hat? 

Andreas Pichler: Es gibt einen roten Faden, der sich durchzieht: die Dichotomie Peripherie versus Zentren in Europa. Wir haben es  „Left Behind Areas“ genannt oder Gegenden, die einfach abgehängt sind. Das Interessante ist, dass sich das quer durch Europa belegen lässt, egal bei welchem Thema. Bei der Episode über Transport wird das sehr gut deutlich. Da dreht es sich nicht allein um die Frage: „Wie kommen wir jetzt möglichst schnell zu unseren Elektroautos?“, sondern es geht um den Zugang zu öffentlichem Transport als ein Grundrecht. Und das ist in vielen Gegenden von Europa nicht mehr der Fall. Es betrifft nicht nur Osteuropa oder Südeuropa, ebenso findet man Gegenden in Frankreich, insbesondere in Nordfrankreich, die völlig abgehängt sind – sogar in England.

In diesen Regionen ist Mobilität das große Thema überhaupt. Warum? Weil die Leute  in diesen Gegenden ganz real abgehängt sind. In Frankreich lässt sich das eins zu eins damit in Verbindung setzen, dass die Menschen in diesen abgehängten Gegenden oft rechts wählen. Das bekommt schnell eine politische Dimension. Für mich war es sehr überraschend, wie klar sich diese Entwicklung über den Mangel an Infrastruktur erzählen lässt.

In dieser Blase, in der die meisten von uns in den großen, zentralen Städten leben, wird schnell vergessen, wie viele Teile von Europa auch ausgeschlossen von öffentlich verfügbarer Mobilität sind, und von allem, was damit zusammenhängt, Arbeitsmöglichkeiten etwa oder den persönlichen Freiheiten, die zum Beispiel ÖPNV mit sich bringen kann.

Redaktion: Die Entwicklungen, die in den Reportagen dargestellt werden, rufen alle zu einem vehementen Umdenken auf. Haben Sie den Eindruck gehabt, aus den vielen Gesprächen, die Sie geführt haben, dass genug Wille da ist, um Dinge zu verändern?

Andreas Pichler: Wir haben versucht, überall auch von möglichen Lösungen zu erzählen und diese zu finden. Das war von Anfang an ein Anliegen für diese Serie und ist dann im Zuge dieser sehr dunklen Phase der Corona-Zeit und des Krieges noch stärker geworden. Das gesamte Team hatte das Gefühl : Wir müssen und wir wollen von möglichen Lösungen erzählen. Lösungen sind für fast alle Probleme und Themen zu finden.

Manchmal findet man sie in Frankreich, manchmal findet man sie aber auch in Estland oder in Spanien. Das ist, glaube ich, das Spannende an der Serie, dass sie durchaus bei aller Aufdeckung der schwierigen Themen auch Lösungen quer durch Europa anbietet.

Ich möchte an ein kleines Beispiel aus der Transport-Episode und den abgehängten Regionen in Frankreich erinnern: In manchen Teilen in der französischen Provinz, wo öffentlicher Transport so schwierig ist, wird auch der öffentliche Dienst abgebaut. Es gibt also kaum noch Bank-Filialen, vor allem auch keine öffentlichen Ämter. Als Lösung dafür wurden teils mobile Gemeindebüros eingerichtet. Sie fahren mit einem großen Camper durch die Gegend und die Leute wissen: „An dem Tag kann ich da hingehen und meinen Rentenantrag dort stellen“. Das sind so ganz kleine Dinge, die  unheimlich helfen können, dass sich die Menschen in solchen Gegenden eben nicht gänzlich abgehängt fühlen. Das ist nur ein Beispiel, aber es zieht sich durch die Serie.

Unter dem Strich habe ich sehr wohl den Eindruck, dass ein Wille zur Veränderung da ist. Wichtig erscheint mir, dass diese Veränderungen immer auch sozial sind.

Redaktion: Abschließend noch mal zur sozialen Komponente. Sie haben es eingangs gesagt, dass gerade diese sozialen Themen Sie persönlich sehr interessieren. Haben Sie den Eindruck, dass mit dieser Reportagen-Serie Lösungen für sozial gerechtere Entwicklungen aufgezeigt werden – unabhängig vom Detail-Thema?

Andreas Pichler: Uns war genau das wichtig, und wir haben sehr oft versucht, genau solche Geschichten zu finden. Wo es auch um soziale Gerechtigkeit geht. Das ist ja gerade das, was ich als den „Europäischen Ansatz“ bei der Lösung von gesellschaftlichen Problemen bezeichnen würde – wo Gerechtigkeit, Respekt und Inklusion eine zentrale Rolle spielen, aber auch Souveränität. Ob sich dieser Ansatz dann auch wirklich überall und in allen Bereichen durchsetzt, ist eine andere Frage.

Andreas Pichler

Regisseur

Andreas Pichler wird 1967 in Bozen/Italien geboren. Er besucht dort die Schule für Fernsehen und Film Zelig, studiert danach Film- und Kulturwissenschaften an der Universitá degli Studi di Bologna und Philosophie an der Freien Universität Berlin, wo er mit dem Magister abschliesst . Während des Studiums realisiert er Tanzfilme sowie Videoinstallationen. Seit Ende der 90er Jahre arbeitet er hauptberuflich im Bereich Dokumentarfilm. Viele seiner Filme sind mit mehreren Europäischen Förder- und Fernsehanstalten koproduziert, sind auf zahlreichen internationalen Festivals zu sehen und gewinne Preise.

So wird er u.a. für seinen Film „Call me Babylon“ 2004 in Deutschland mit dem Adolf Grimme Preis als Autor und Regisseur ausgezeichnet, 2009 für „Der Pfad des Kriegers“ erneut nominiert; „Die Lithium Revolution“ wird 2013 mit dem Quandt Medien Preis ausgezeichnet; seine Kino Dokumentarfilm „Das Venedig Prinzip“ läuft 2013/14 erfolgreich in den Deutschen-, Österreichischen- und Kanadischen Kinos, ist auf über 30 Internationalen Festivals zu sehen und gewinnt zahlreiche Preise.

Andreas Pichler arbeitet in Italien, Deutschland und Österreich und ist seit einigen Jahren auch als Produzent tätig.

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