Digitalisierung bringt Licht ins Verteilnetz

Gastautor Portrait

Elaheh Mashayekhi

Ingenieurin Systemanforderungen, Netze BW GmbH

Elaheh Mashayekhi ist Ingenieurin Systemanforderungen bei der Netze BW GmbH im Bereich Netzführung, wo sie die Mitgestaltung der Zukunft der Stromnetze nach ihrem Master im Studiengang Nachhaltige Elektrische Energieversorgung an der Universität Stuttgart begann. Sie arbeitet derzeit als Product Owner State Estimation im Digitalisierungsprogramm #NETZlive. Bei #NETZlive steht die Entwicklung innovativer Lösungen für mehr Transparenz und Versorgungssicherheit im Verteilnetz im Fokus.

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19. Mai 2021

Der steigende Anteil an volatiler dezentraler Erzeugung im Stromnetz erhöht die Notwendigkeit einer maximalen Sichtbarkeit der Lastflüsse im Verteilnetz.

Elaheh Mashayekhi

Mit der Verlagerung der Einspeisung von Höchst- und Hochspannungsnetz zum Mittel- und Niederspannungsnetz müssen die Verteilnetzbetreiber Prozesse und Dienste zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit und -qualität einrichten. Der steigende Anteil an volatiler dezentraler Erzeugung im Stromnetz erhöht die Notwendigkeit einer maximalen Sichtbarkeit der Lastflüsse im Verteilnetz. Diese Sichtbarkeit kann zum einen durch eine vollständige Überwachung des Verteilnetzes anhand direkter Messung aller Netzzustände erzielt werden, welches aus wirtschaftlichen Gründen nicht praktikabel für das Mittelspannungsnetz ist.

Eine andere Lösung für das Herstellen dieser Transparenz in Echtzeitbetrieb ist die Zustandsschätzung. Bei der Zustandsschätzung handelt es sich um die Ermittlung bzw. Estimation der wahrscheinlichsten Zustände des Netzes, nämlich Knotenspannung, Stromfluss durch die Leitungen, Wirk- und Blindleistung der Knoten und der Leitungen. Zustandsschätzung dient hauptsächlich der sicheren und vorausschauenden Netzführung, wo kritische Betriebszustände frühzeitig erkannt und vermieden werden können. Zudem hilft diese Sichtbarkeit bei der Optimierung des Netzausbaus sowie bei Predictive Maintenance, wo anhand von Stamm- und Bewegungsdaten bessere und schnellere Entscheidungen für die Planung und den Betrieb des Verteilnetzes getroffen werden können.

5 Schritte bis zum Licht

Um Licht ins Verteilnetz zu bringen, müssen folgende Digitalisierungsschritte unternommen werden:

  • Bereitstellung eines rechenfähigen Echtzeit-Netzmodells in einem systemübergreifend einlesbaren Format.
  • Erfassung der Stammdaten von Verbrauchern und Einspeisern, jeweils nach Typen geordnet, sowie Integration dieser Daten ins Netzmodell.
  • Optimale Platzierung der Messtechnik im Netz nach technischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten.
  • Anbindung verschiedener Datenquellen und Systeme über definierte Schnittstellen.
  • Entwicklung eines Hochleistungsalgorithmus zur Durchführung der Zustandsschätzung und Einleitung Handlungsempfehlungen für den Betrieb.

Im Folgenden werden zwei Zustandsschätzungsverfahren diskutiert.

KI oder klassische Verfahren? – Ja, bitte!

In einer der Marx Brothers Auftritten war die Antwort von Groucho auf die Standardfrage „Tee oder Kaffee?“, „Ja, bitte!“. Eine Verweigerung der Wahl des Standards, welche die Suche nach einer Alternative zeigt.

Das ist genau das, was wir im Produkt #NETZtransparenz im Rahmen des #NETZlive-Programms bei der Netze BW untersuchen: KI, klassische Verfahren oder einfach beides?

#NETZlive ist ein Digitalisierungsprogramm bei der Netze BW mit dem Ziel, Transparenz im Verteilnetz zu schaffen. Für das Feature „Ermittlung MS-live-Netzzustände“ testen wir derzeit verschiedene Ansätze auf dem Markt, um die für uns beste Lösung zu finden.

Derzeit ist der auf dem Markt vorherrschende Ansatz für die Zustandsschätzung der Weighted Least Squares-Algorithmus (WLS), welcher Anfang der 1970er Jahre entwickelt wurde. Dieser Algorithmus erfordert zur vollständigen Beobachtung aller Elemente eines MS-Netzes eine hohe Messgeräteredundanz. Da bei weitem nicht für alle Knoten im Netz Messwerte vorhanden sind, werden hierfür Pseudomessungen generiert.

NETZlive: Links werden die Netzzustände nach Kritikalität (Ampelkonzept) angezeigt; dem gegenüber die Darstellung nach State Estimation in einem Testgebiet.

Ein anderer Ansatz verwendet ein Künstliches Neuronales Netz (KNN), welches mit einer großen Zahl an fiktiven, aus verschiedenen Szenarien und Datenquellen erzeugten Netzzuständen trainiert wird. Dieses trainierte KNN kann unter Zuhilfenahme einiger Messwerte die nicht beobachteten Netzzustände estimieren. Es ist behauptet, dass die KNN-Methodik weniger Messwerte im Vergleich zur klassischen WLS-Methodik benötigt.

Die Abweichung der estimierten Netzzustände von den realen Messwerten erfüllt aktuell noch nicht alle Anforderungen des Netzbetriebs. Das gilt sowohl für KNN als auch für WLS.

Bei der WLS-Methodik muss mit einer gleichmäßigen Ungenauigkeit der estimierten Zustände aufgrund der meist statisch gebildeten Pseudomessungen gerechnet werden. Die Qualität der estimierten Netzzustände hängt vor allem von der Anzahl und Qualität der vorhandenen Messwerte, sowie der Qualität der generierten Pseudomessungen ab.

KNN bietet große Potenziale aufgrund seiner Lernfähigkeit. Die ersten Ergebnisse der Tests zeigten jedoch einige Herausforderungen bei der Anwendung von KNN-Verfahren in realem Verteilnetz mit hoher Durchdringung an erneuerbare Energien.

Ein KNN kennt an sich keine physikalischen Gesetze (z.B. Kirchhoff’sche Regeln). Das ist ein wichtiger Punkt, welcher bei Anwendung eines KNN auf ein elektrisches Netz genauer analysiert werden muss. Die Frage, ob KI in der Lage ist, Physik zu lernen, muss noch geklärt werden.

Außerdem ist ein Neutrainieren der KNN bei einer Änderung der zum Training verwendeten Netztopologie z.B. aufgrund einer Störung oder bei Änderungen der Stufenstellungen der Ortsnetztransformatoren erforderlich. Die benötigte Trainingszeit kann abhängig von der Größe der KNN-Eingangsdaten relativ lange (mehrere Minuten) dauern. Hier werden praktische Lösungen zur Reduzierung der Trainingszeit benötigt.

Interessant ist an dieser Stelle die Antwort auf die Frage, ob die Einbindung von KI mit klassischen Verfahren wie WLS zu genaueren Lösungen für die Zustandsschätzung führt. Die WLS benötigt Pseudomesswerte, welche anhand von KI-basierten Ansätzen und mit Hilfe von historischen und Echtzeit-Daten dynamisch generiert werden können. Die Integration von klassischen Zustandsschätzungsverfahren bzw. Nachbearbeitung der simulierten und geschätzten Netzzustände in der Trainingsphase oder in der Betriebsphase des KNN zum Erzielen physikalischer Konsistenz ist auch eine weitere Möglichkeit. Diese Möglichkeiten sollen einzeln untersucht und bewertet werden, sodass passende Funktionen und Prozesse zur Gewährleistung und Verbesserung der Handlungsfähigkeit im Verteilnetz etabliert werden können.

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