Zäsur ja, Ende nein – warum wir auch weiterhin kerntechnischen Sachverstand brauchen

Gastautor Portrait

Uwe Stoll

Technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS)

Nach seinem Studium der Kernenergietechnik in Moskau und einer mehrjährigen Tätigkeit an der Technischen Hochschule Zittau war Uwe Stoll ab 1990 für die Siemens AG, Framatome und schließlich in leitender Position für Areva tätig. Seit 2016 ist er technisch-wissenschaftlicher Geschäftsführer der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS). Mehrheitlich in öffentlicher Hand, unterstützt die GRS die Bundesregierung gutachterlich und forscht zur kerntechnischen Sicherheit, der Entsorgung radioaktiver Stoffe und dem Strahlenschutz. Seit vielen Jahren gehört Stoll der Reaktor-Sicherheitskommission an.

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22. März 2021

Das Unglück von Fukushima jährt sich nun zum zehnten Mal. Aus diesem Anlass haben wir als Blog-Redaktion Expertinnen und Experten als Gastautor*innen eingeladen, ihre Themen rund um den Ausstieg aus der Kernenergie vorzustellen: Wie können Fachkräfte qualifiziert werden? Wie erfolgt die Nachwuchssicherung in Fragen des Rückbaus? Welche Herausforderungen gilt es beim Thema Rückbau zu lösen und welche Fortschritte und Erfolge wurden erzielt? Antworten auf diese und weitere Fragen finden sich in diesem und weiteren Gastbeiträgen unter dem Hashtag #Kernenergie. In unserem heutigen Beitrag publiziert Uwe Stoll von der Gesellschaft für Anlagen- und Reaktorsicherheit (GRS).

Zehn Jahre nach dem Reaktorunfall in Fukushima stehen wir kurz davor, den Atomausstieg in Deutschland zu vollenden. Getragen von einem breiten gesellschaftlichen Konsens, wird mit der Abschaltung der letzten Anlagen Ende 2022 die Nutzung der Kernenergie zur Stromerzeugung in Deutschland beendet. Damit rückt eine andere Frage in den Fokus: Welche Kompetenzen im Bereich der Kerntechnik werden langfristig benötigt, und wie können diese erhalten werden? Teilweise wird die Auffassung vertreten, dass sich die Forschung künftig ganz weitgehend auf den Rückbau und die Entsorgung radioaktiver Abfälle beschränken sollte. Betrachtet man die Entwicklungen im europäischen Ausland und stellt sich dazu die Frage, wie wir unsere eigene Sicherheit möglichst effektiv gewährleisten können, kommt man zu einem anderen Ergebnis.

Kernenergie in Europa: kein Ende in Sicht

Es kann also aus heutiger Sicht nicht plausibel ausgeschlossen werden, dass in Europa noch weitere Kernkraftwerke gebaut oder Laufzeiten verlängert werden.

Uwe Stoll

Nach Angaben der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) sind aktuell in Europa 180 Reaktorblöcke in Betrieb. Ein Teil dieser Reaktoren wird in den nächsten Jahren stillgelegt. Gleichzeitig werden aber schon jetzt in unserer näheren europäischen Nachbarschaft (Frankreich, Finnland, Belarus, Slowakei und UK) neun neue Blöcke errichtet, in Tschechien wurde dieser Tage die Genehmigung für den Bau zweier Blöcke erteilt, und eine Reihe europäischer Staaten – darunter Polen, Ungarn sowie Bulgarien und UK – plant den Bau weiterer Anlagen.

Ebenso ist ein anderer, deutlicher Trend erkennbar, die Laufzeiten bestehender Kernkraftwerke (KKW) zu verlängern: Schwedische Betreiber erwägen eine Verlängerung über 60 Betriebsjahre hinaus, für einzelne Anlagen im UK wurden bereits Laufzeitverlängerungen beschlossen und eine weitere wird diskutiert, die Niederlande haben für das KKW Borssele die Verlängerung von 40 auf 60 Jahre unter dem Vorbehalt regelmäßiger Sicherheitsnachweise genehmigt, und in Frankreich wurden jüngst ebenfalls entsprechende Beschlüsse gefasst.

Bemerkenswert ist dabei, dass in den betreffenden Ländern als eines der wesentlichen Argumente für den Neubau oder Laufzeitverlängerungen die Bereitstellung CO2-armer Stromerzeugungskapazitäten angeführt wird. Man mag unterschiedlicher Meinung darüber sein, ob Kernenergie einen effektiven Beitrag zum Klimaschutz bietet oder nicht – dass dies in nicht wenigen Staaten angenommen wird, lässt sich ebenso wenig negieren wie den Umstand, dass dieses Argument aus Sicht seiner Befürworter auf sehr lange Sicht hinaus Bestand haben wird. Es kann also aus heutiger Sicht nicht plausibel ausgeschlossen werden, dass in Europa noch weitere Kernkraftwerke gebaut oder Laufzeiten verlängert werden. Anders gewendet: Noch über viele Jahrzehnte werden um uns herum Kernkraftwerke betrieben werden.

Was können wir für unsere eigene Sicherheit tun?

Umso wichtiger ist es, dass wir es in Deutschland schaffen, uns auf lange Sicht ein hohes Niveau an kerntechnischer Kompetenz zu erhalten. Dafür sprechen vor allem zwei Gründe:

Zum einen muss es unser Anspruch sein, sicherheitsrelevante Ereignisse und Entwicklungen in unserem geografischen Umfeld kraft eigener Expertise bewerten zu können. Wie weit dieses Umfeld reicht, hat uns der Unfall von Tschernobyl deutlich vor Augen geführt. Diese Fähigkeit ist einerseits eine grundlegende Voraussetzung dafür, bei einem schweren Stör- oder Unfall in einer benachbarten Anlage kurzfristig und notfalls auch unabhängig vom Informationsfluss aus dem betroffenen Land Fragen zu klären, die für den Schutz unserer Bevölkerung essenziell sind: Ist mit Freisetzungen radioaktiver Stoffe in die Umwelt zu rechnen? Falls ja, wieviel Radioaktivität wird freigesetzt und wieviel Zeit verbleibt für Notfallschutzmaßnahmen? Andererseits sollten wir auch schon bei Entwicklungen unterhalb eines derart dramatischen Ausmaßes in der Lage sein zu bewerten, ob und gegebenenfalls welches Risikopotenzial aus ihnen für das Bundesgebiet resultiert. Als etwa im Jahr 2012 in den Wänden der Reaktordruckbehälter zweier belgischer Reaktoren tausende Rissbefunde entdeckt wurden, bestand nicht zuletzt in weiten Teilen der Bevölkerung die klare – und berechtigte – Erwartungshaltung, dass die zuständigen öffentlichen Stellen und ihre Gutachterorganisationen der Sache auf den Grund gehen. Letztlich war es den Anregungen deutscher Fachleute zu verdanken, dass in Belgien zusätzliche Materialuntersuchungen durchgeführt und anschließend gemeinsam ausgewertet wurden. Erst diese zusätzlichen Untersuchungsergebnisse haben es ermöglicht, die Sicherheitsrelevanz der Befunde mit der nach unseren Maßstäben nötigen Aussagesicherheit zu bewerten. Auch hier haben sich die Erfahrungen aus den letzten Jahrzehnten bestätigt, dass bloße Fundamentalopposition als Form der Einflussnahme nicht effektiv ist, wenn konkrete Verbesserungen erzielt werden sollen.

Zum anderen bleibt es auch langfristig in unserem eigenen Interesse, Einfluss auf die Regelungen und Richtlinien nehmen zu können, die den europäischen bzw. internationalen Maßstab für die Sicherheit beim Bau und dem Betrieb von KKW bilden. Gerade auch in dieser Hinsicht muss uns Fukushima eine Mahnung sein, denn eine wesentliche Erkenntnis aus diesem Unfall lautet: Nicht allein die Einhaltung der Regeln macht eine Anlage „sicher“ – auch die Regeln müssen angemessen sein und immer wieder kritisch hinterfragt werden. Um aber in der Europäischen Union oder bei der Entwicklung des IAEO-Regelwerks Sicherheit voranzubringen, benötigt man die besseren (Gegen)Argumente und gegebenenfalls auch konstruktive Lösungen – kurz: Man muss kompetent sein und auch so wahrgenommen werden.

Was braucht es dazu?

Es braucht den Erhalt eigener Sicherheitsforschung, auch über Fragen des Rückbaus und der Entsorgung radioaktiver Abfälle hinaus.

Uwe Stoll

Was aber braucht es, wenn man auch langfristig kompetent und sprachfähig bleiben will? Es braucht den Erhalt eigener Sicherheitsforschung, auch über Fragen des Rückbaus und der Entsorgung radioaktiver Abfälle hinaus. Es braucht dabei insbesondere auch die Möglichkeit, auf internationaler Ebene aktiv zu sein, sowohl forschend als auch in der praktischen Anwendung. Diese Aktivitäten sind unverzichtbar, um das eigene Wissen und die eigenen Methoden an internationale Entwicklungen anzupassen und diese Entwicklungen zu beeinflussen. Aktuelle Beispiele sind hier die Entwicklung kleiner modularer Reaktoren und der Einsatz neuartiger, störfalltoleranter Kernbrennstoffe.

Sich mit der Sicherheit solcher neuartiger Entwicklungen zu befassen, ist aber auch in anderer Hinsicht unverzichtbar. Dies bietet der nächsten Generation an Fachleuten motivierende Aufgaben und die berufliche Perspektive, ohne die man junge, hochqualifizierte Menschen nicht dazu bewegen kann, sich langfristig für die kerntechnische Sicherheit zu engagieren. Dazu gehört auch, dass ein solcher Berufsweg nicht als „verwerflich“, sondern als wertvoller Beitrag anerkannt wird.

Um all das langfristig sicherzustellen, braucht es einen breiten politischen und gesellschaftlichen Konsens sowie geeignete Strukturen unter Einbindung von staatlichen Institutionen, Forschungsorganisationen und der Industrie. Und nicht zuletzt braucht die Forschung eine verlässliche Finanzierung. Unsere eigene Sicherheit sollte uns das wert sein.

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