Finstere Perspektiven für die europäische Nachbarschaft. Der Nahe Osten im Zeichen von Klimakrise und Ernährungsengpässen

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Stefan Lukas

Director of Studies, Berliner Senatsverwaltung

Stefan Lukas ist Nahost-Analyst und seit 2019 Gastdozent an der Führungsakademie der Bundeswehr zu Hamburg. Neben der allgemeinen Forschung zur Sicherheitspolitik in der Golfregion, setzt er sich auch im Rahmen seiner Lehre an der Universität Potsdam (Lehrstuhl Sönke Neitzel) mit den Folgen des Klimawandels auf die sicherheitspolitischen Strukturen in der Region sowie dem steigenden Einfluss Chinas im Nahen Osten auseinander. Lukas ist Advisor bei der Gesellschaft für Sicherheitspolitik in Berlin und war unter anderem Dozent an den Universitäten Jena und Greifswald.

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13. Juli 2022

Juni 2022: Während in deutschen Medien bei fast 40°C im Mai weiterhin von „tollem Sonnenwetter“ und viel Zeit zum Erholen gesprochen wird, ächzt zur gleichen Zeit nahezu der gesamte Nahe Osten unter den Eindrücken der inzwischen vierten Hitzewelle in diesem Jahr mit regelmäßig über 50°C. Was wir in weiten Teilen der deutschen und europäischen Gesellschaft als Wandel im Klimasystem bezeichnen, sorgt in vielen vulnerablen Regionen der Erde inzwischen für Krisensituationen, die inzwischen jährlich wiederkehren. Mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine wird nunmehr noch eine weitere Problematik aufgeworfen, die die ohnehin schon unter Druck stehenden Staaten der südlichen Nachbarschaft zusätzlich treffen wird. Sowohl die Ukraine als auch Russland gehörten bislang zu den größten Exporteuren von Weizen, Sonnenblumenöl und Düngemittel in die Staaten des Nahen Ostens, was diese nun vor noch größere Herausforderungen stellt und die Stabilität der Region gefährden könnte.

Von Nahrungsmittelengpässen zu immer größeren Schuldenbergen

Wollen die Regierungen auch weiterhin die Subventionen aufrechterhalten, müssen sie zunehmend mehr finanzielle Mittel in die Hand nehmen, was wiederum zu einem immer größeren Schuldenberg führt [...]

Stefan Lukas

Es war bereits im September zu sehen: Aufgrund von schlecht ausgefallenen Ernten und Problemen in den Lieferketten stiegen schon im letzten Jahr die Preise für grundlegende Nahrungsmittel an den Börsen weltweit an. Vor allem der für die Haushalte im Nahen Osten so wichtige Weizen unterlag einem enormen Preisanstieg von über 40 % als im Vorjahresmonat, was besonders für Staatenlenker in Ägypten, Jordanien, Syrien und Tunesien böse Erinnerungen wachrief. Denn bereits 2011 ging dem sogenannten Arabischen Frühling eine massive Preissteigerung von Weizenprodukten voraus, weshalb in vielen Städten damals schon „Brot-Proteste“ an der Tagesordnung standen und die Grundlage für die späteren Regierungsumstürze legten. Um eine Wiederholung dieser Entwicklungen zu verhindern, bemühen sich Regierungen in der gesamten Region, die Subventionen für Brot und andere Grundnahrungsmittel auf einem hohen Level zu halten. Aufgrund der Tatsache, dass auch die Regierungen und staatliche Firmen als normale Handelsakteure auf dem globalen Markt auftreten, sorgen die stetig wachsenden Preise für ein Dilemma: Wollen die Regierungen auch weiterhin die Subventionen aufrechterhalten, müssen sie zunehmend mehr finanzielle Mittel in die Hand nehmen, was wiederum zu einem immer größeren Schuldenberg führt, der mittel- und langfristig zu deutlich mehr Verbindlichkeiten führt. Mit dem Wegfall der Ukraine als einem der größten Exporteure von Weizen und Sonnenblumenöl und der künstlichen Verknappung von Weizen und Öl durch Russland, schnellen die Preise für Weizen nun noch mehr in die Höhe – der Höhepunkt lag zuletzt bei 420 €/t.

Die ersten Konsequenzen zeigen sich binnen eines Monats: Im Irak protestierten die Menschen auf den Straßen Basras und Bagdads gegen gestiegene Brotpreise, weil die irakische Regierung nicht schnell genug gegensteuern konnte, und in Ägypten verbot die Regierung unter Al-Sisi sämtliche Exporte von Weizen und anderen Grundprodukten. Ähnlich wie auch 2011 dürfte auch dieses Mal Ägypten wieder um Fokus stehen, da das Land mit seinen inzwischen mehr als 100 Mio. Menschen etwa 80% seiner Weizenimporte aus Russland und der Ukraine bezieht und mit Hilfe seiner eigenen Landwirtschaft bei weitem nicht mehr in der Lage ist, seine eigene Bevölkerung zu versorgen.

Perspektivisch dürften somit drei Tendenzen zu sehen sein, sollten die Nahrungsmittelpreise an den Märkten dieser Welt nicht wieder auf ein normales Level binnen der nächsten Monate gelangen – wonach es auf längere Zeit nicht aussieht. Erstens werden wir deutlich mehr Verteilungskämpfe in Bezug auf Weizenankäufe sehen, was wiederum zu höheren Preisen bei den großen Exportnationen Indien, USA und Kanada führen wird. Zweitens werden sich aufgrund der oben genannten Mechanismen die Preissteigerungen massiv auf die Staatshaushalte auswirken. Sollten die jeweiligen Regierungen nicht mehr in der Lage sein, neue und idealerweise günstige Kredite bei internationalen Geldgebern zu erlangen, dürften Kürzungen in den Staatshaushalten unausweichlich sein, was Korruption und Unruhen in den betroffenen Staaten wahrscheinlicher werden lässt. Drittens müssen wir uns auf neue Abhängigkeiten einstellen, die es finanziell stärker gestellten Staaten entlang des Golfes, aber auch Chinas zukünftig erleichtern wird, politischen Einfluss zu nehmen. Insbesondere in Ägypten, dem Irak und Jordanien konnten wir in der Vergangenheit beobachten, dass die Staatshaushalte durch Kredite aus dem Ausland gestützt werden mussten.

Kann all dies bereits als maßgebliche Herausforderungen für die Region betrachtet werden, so können wir im Irak derzeit ein weiteres Phänomen betrachten, welches prägend für den gesamten Nahen Osten sein wird, sollten wir nicht endlich entschieden genug Maßnahmen gegen die Klimakrise ergreifen: Eine massive Wasserknappheit mit Folgen für Gesellschaft, Wirtschaft und letztendlich auch die Regierungen.

Von Wassernot und landwirtschaftlichem Zusammenbruch

Während der Klimawandel bislang nur als Brandbeschleuniger für bereits bestehende Konflikte bezeichnet werden kann, wird sich diese Beschreibung 2040 kaum noch aufrecht halten können.

Stefan Lukas

1920 wurde im Irak erstmalig der Wasserdurchfluss im Land am Euphrat und Tigris gemessen: Man kam auf einem stolzen Betrag von etwa 1350 m³/s, womit man sehr gut die eigene Landwirtschaft, die damals mehr als 80% der Bevölkerung mit Arbeit versorgte, unterhalten konnte. Mehr als ein Jahrhundert später lassen die blanken Zahlen nur noch ein düsteres Bild zu: Der derzeitige Wasserdurchfluss im Irak liegt bei nur noch 192 m³/sek, die Oberflächenwasser des Iraks verdunsten jährlich um 14% und die Versalzung der Böden entlang der Küstenregion im Shatt al-Arab lässt die ehemals landwirtschaftlichen Gebiete der Region brach liegen. Als Folge dieser Entwicklungen brach der landwirtschaftliche Umsatz im Irak binnen eines Jahres um 40% ein. Hinzu kommen Sandstürme im Land, die inzwischen an 200 Tagen im Jahr auftreten – 2050 werden laut irakischem Umweltministerium an mehr als 300 Tagen im Jahr Sandstürme auftreten, die das gesellschaftliche Leben nahezu zum Erliegen bringen.

Was klingt wie Sequenzen aus einer Dystopie, ist inzwischen Realität im Nahen Osten. Denn auch in anderen Staaten lassen sich die gleichen Entwicklungen beobachten. Laut World Ressources Institute  sorgen massiver Wassermangel, Desertifikationsprozesse und stetige Hitzewellen mit immer neuen Höchsttemperaturen für eine massive Bedrohung ganzer Landstriche, in denen menschliches Leben auf Dauer kaum noch möglich ist. Zuvorderst sind davon besonders Staaten betroffen, die ohnehin bereits als wenig stabil zu bezeichnen sind: Der Iran, Irak, Ägypten, Syrien, Pakistan und Libyen sind Staaten, die zu aller erst die massiven Folgen der Klimakrise zu spüren bekommen und zugleich als europäische Nachbarschaft im Süden bilden. Während der Klimawandel bislang nur als Brandbeschleuniger für bereits bestehende Konflikte bezeichnet werden kann, wird sich diese Beschreibung 2040 kaum noch aufrecht halten können. Dass sich diese Entwicklungen auch auf unser Geschehen in Europa auswirken können, haben nicht zuletzt die Ereignisse in den Jahren 2015 und 2016 gezeigt. Wir müssen uns daher auch in Europa Gedanken über Handlungsoptionen und Hilfsmaßnahmen machen, wollen wir nicht ein weiteres Mal in die nächste Krise unvorbereitet hineinrutschen.

Im eigenen Interesse – Europa muss handeln

So hat das Beispiel des Syrienkrieges gut verdeutlicht, wie aus einer ökologischen Krise eine gesellschaftliche und schließlich eine staatliche Krise bis hin zum Bürgerkrieg werden konnte.

Stefan Lukas

Als die Migrationsbewegungen in Folge des Krieges im Irak, Syrien und Libyens aufzeigten, wie schlecht europäische Akteure mit solchen Herausforderungen umgehen können, wurde relativ schnell offensichtlich, dass ähnliche Belastungsproben schädlich für den europäischen Zusammenhalt sind, insbesondere, da weiterhin keine passende Lösung gefunden wurde. Mit dem oben beschriebenen Verlust der Lebensgrundlage für Millionen von Menschen im Nahen Osten und Nordafrika in Folge von steigenden Lebensmittelpreisen und zunehmender Klimakrise, stehen wir perspektivisch allerdings vor neuen und noch größeren Herausforderungen dieser Art. Wenngleich etwa 70-80% der weltweiten Geflüchteten derzeit Binnenflüchtlinge sind, so wird sich diese Zahl dann ändern, sobald die zentralen Institutionen dem Druck nicht mehr Stand halten können und die innere Stabilität in Folge von ungelenkten Urbanisierungsprozessen, gesellschaftlicher Unzufriedenheit und wirtschaftlicher Perspektivlosigkeit geschwächt werden wird. So hat das Beispiel des Syrienkrieges gut verdeutlicht, wie aus einer ökologischen Krise eine gesellschaftliche und schließlich eine staatliche Krise bis hin zum Bürgerkrieg werden konnte.

Für die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten muss sich daher die Frage stellen, wie man solchen Entwicklungen vorgreifen kann und wie mit den verfügbaren Mitteln effizient ein Wandel herbeigeführt werden kann.

Kurzfristig muss hier vor allem den steigenden Weizenpreisen an den Weltmärkten entgegenwirkt werden und Hilfsprogrammen wie dem World-Food-Programm der Vereinten Nationen finanziell deutlich stärker geholfen werden. Auch die noch bestehenden und derzeit zu großen Teilen in der Ukraine befindlichen Weizenernten der letzten Saison, müssen dringend aus dem Land exportiert werden, um nicht nur Platz für die kommende Ernte im Westen des Landes zu schaffen. Dies passiert derzeit noch zu bürokratisch und zu kompliziert.

Mittelfristig müssen sich europäische Akteure auch in Form von (finanziellen) Entwicklungsprogrammen für Finanz- und Hilfsprojekte im Nahen Osten einsetzen, damit zum einen die Regierungen vor Ort weiterhin ihre Subventionen aufrecht erhalten können und zum anderen auch nachhaltigere Projekte in den betroffenen Regionen entwickelt und vorangetrieben werden. Dazu gehört auch der Ausbau der Wasserdiplomatie in der Region, um zwischenstaatliche Spannungen um Wasser und andere Rohstoffe frühestmöglich beizukommen.

Langfristig kann man all die vorangegangen Maßnahmen jedoch nur dann sichern, wenn man die eigenen Hausaufgaben aus klimapolitischer Sicht auch macht. Sollte es der EU mit dem New Green Deal aufgrund der Einzelinteressen einzelner Staaten wie Deutschland, Ungarn, Polen und Frankreich nicht schaffen, den eigenen CO2-Ausstoß gemäß dem Pariser Abkommen zu senken, gelten alle anderen Projekte nur der Bekämpfung der Symptome.

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