War watt? Energiewende in der Provinz

Gastautor Portrait

Hubertus Grass

Kolumnist

Nach Studium, politischem Engagement und Berufseinstieg in Aachen zog es Hubertus Grass nach Sachsen. Beruflich war er tätig als Landesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Prokurist der Unternehmensberatung Bridges und Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden. 2011 hat er sich als Unternehmensberater in Dresden selbständig gemacht.

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09. Juli 2015
Energiewende aktuell

Die Weltklimakonferenz findet im Dezember statt, der deutsche Fahrplan steht. Bis 2050 wird Deutschland 80% bis 95% seiner Treibhausgasemissionen im Vergleich zu 1990 reduzieren müssen. Das Ziel ist politisch über Parteigrenzen hinweg unumstritten. Je ferner die Ziele, desto leichter ist eine Einigung zu erreichen, das lehrte uns zuletzt der G7-Gipfel. Vice versa gilt, dass der Streit umso heftiger tobt, je konkreter die Maßnahmen zur Zielerreichung diskutiert werden. Bundesumweltministerin Barbara Hendricks musste das diese Woche erfahren. Im Interview mit der Zeit kündigte sie einen Ausstieg aus der Kohleverstromung der Braunkohle in den nächsten 25 bis 30 Jahren an. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, denn mit den Braunkohlekraftwerken sind die Klimaziele nicht zu erreichen, das lässt sich im Kopf ausrechnen. Doch sie hatte ihre Rechnung ohne die für die Energiewende in der Provinz zuständigen Politiker gemacht.

Die Energiewende in der Provinz wird in Potsdam und in Dresden gedacht. Voller Empörung, dass die Ministerin es wagte, die einzig rationale Schlussfolgerung aus den deutschen und europäischen Klimazielen zu formulieren, schrieben die Wirtschaftsminister aus Sachsen und Brandenburg eine gemeinsame Presseerklärung. Wer wissen möchte, wie Energiepolitik früher einmal funktionierte, dem sei das Dokument zur Lektüre wärmstens empfohlen. Sachsens Minister Martin Dulig führt zum Beispiel aus: „Ob und wie lange wir die Braunkohle zur Energieerzeugung noch benötigen, war für Sachsen nie eine Glaubensfrage, sondern davon abhängig, ob und wie schnell wir alternative Energieformen grundlastfähig machen können.“  Vor der Energiewende, das wissen die Älteren unter uns, hat man noch zwischen Grund-, Mittel- und Spitzenlast unterschieden. Jetzt haben wir über 30% erneuerbaren Strom im Netz, Grundlast war vorgestern gefragt, jetzt geht es um Flexibilität. Das hat sich im Sächsischen Staatsministerium für Wirtschaft und Arbeit, das auch für die Energiepolitik des Landes zuständig ist, noch nicht herum gesprochen. Ohnehin wird im Freistaat gemutmaßt, dass der im Ministerium versammelte Sachverstand zur Energiewende nicht ausreiche, um einen Projekttag in der Vorschule zu gestalten.

Aus Sachsen kommt das Killerargument gegen den Klimaschutz

Während die Welt darauf hofft, dass die Nationen im Dezember in Paris ein globales Klimaschutzabkommen vereinbaren, das diesen Namen verdient, hat der sächsische Ministerpräsident Stanislav Tillich das Killerargument gegen jedwede Klimapolitik formuliert: „Für Sachsen gilt die Maßgabe, dass Arbeitsplätze nicht für Klimaziele geopfert werden.“ Ist das nur provinziell oder schon Kabarett? In Sachsen sind weniger als 4.000 Menschen direkt in der Braunkohle (Tagebau und Kraftwerke) beschäftigt. Selbst in Sachsen arbeiten viel mehr im Bereich der erneuerbaren Energien als in der Kohle. Wenn die Regierungschefs von China, Indien und Brasilien nun auch intelligent spielen und mit Berufung auf Sachsen keinen Arbeitsplatz für den Klimaschutz opfern wollen, dann könnte man die Verhandlungen in Paris schon vergessen, bevor sie begonnen haben.

Boxberg, Braunkohle, Energiewende in der Provinz Das Urlaubsland Sachsen von seiner schönsten Seite: Blick über den Tagebau Nochten zum Kraftwerk Boxberg

Regierungschef Tillich und die Minister Gerber und Dulig vertreten die Interessen ihres Landes. Im Gegensatz zu Michael Vassiliadis, der als IGBCE-Chef nur die Eigeninteressen seiner Kumpels und sonst nichts zu vertreten hat, sind sie als gewählte Politiker dem Allgemeinwohl verpflichtet. Ihnen obliegt es zum Beispiel darüber nachzudenken, wie der bevorstehende Strukturwandel in der Lausitz und im mitteldeutschen Braunkohlerevier zu vollziehen ist.

Sigmar Gabriel hatte in seiner bemerkenswerten Rede auf dem BDEW-Kongress unter anderem ausgeführt, dass grundlegende Veränderungen im Strommarktdesign anstehen, bis 2040 sind 400 Mio t. an CO einzusparen. Aber er reichte den Braunkohleländern in dieser Rede auch die Hand, um gemeinsam die absehbaren Herausforderungen zu bewältigen. An der Gestaltung der Zukunft haben die Verantwortlichen in Brandenburg und Sachsen offenbar kein Interesse. Sie denken, man könne die Zukunft am besten meistern, wenn man sich fest an die Gegenwart klammert. Braunkohle forever – das ist der Sound der Energiewende in der Provinz.

Hoax

Der Klimawandel ist ein Scherz

Während über Deutschland die Sonne und die Republik über Sachsen lacht, erhellt in den USA ein Leak bei der fossilen Industrie die Machenschaften der Klimaleugner. Gerade frisch erschien ein Dossier (leider nur in englisch), das anhand von internen Dokumenten aus den Konzernen Chevron, ConocoPhillips, BP, ExxonMobil und Peabody Energy belegt, wie diese im fossilen Geschäft tätigen Konzerne – seit 1988 um die Ursachen und Gefahren des Treibhauseffektes wissend –  alles daran setzten, die ernsthafte Klima-Wissenschaft zu diskreditieren und die öffentliche Meinung in die Irre zu führen. Das alles erinnert sehr an die Zigarettenindustrie, die um des eigenen Vorteils willen über Jahrzehnte die gesundheitlichen Gefahren des Rauchens leugnete, sich Ärzte und Wissenschaftler kaufte und die wissenschaftliche Forschung mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln behinderte: Lug und Betrug im großen Stil und ohne Rücksicht auf Verluste. Kohle- und Erdölunternehmen stehen jetzt im Verdacht, ähnlich agiert zu haben.

Die Tabakkonzerne mussten am Ende zahlen. Hoffen wir, dass auch die Konzerne zur Rechenschaft gezogen werden, die seit 27 Jahren den Amerikanern sehr erfolgreich einreden, der Klimawandel wäre ein Scherz. Es wäre mir eine große Freude, wenn alle Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.

Das Dossier steht hier zum Download bereit.


Updatde15. Juli 2015: Das Interview der „Zeit“ mit der Bundesumweltministerin über den Ausstieg aus der Kohle in 25 bis 30 Jahren steht nun auch online zur Verfügung.

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  1. Prof. Stefan Krauter

    vor 9 Jahren

    Klimaschutz kostet nicht nur (sehr schlechte) Arbeitsplätze, sondern rettet auch Menschenleben. Anders gesagt: Braunkohlenutzung sorgt dafür, dass viele niedrig gelegene Regionen überschwemmt werden, Stürme katastrophaler ausfallen und Dürren zunehmen - kurz gesagt: tötet.

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