Das Stickstoffdilemma in den Niederlanden: Wohin mit der Sch****?

In den Niederlanden haben in den letzten Monaten geplante Umweltauflagen, die auf die Verringerung des Schadstoffausstoßes im Land abzielen, für gesellschaftliche Unruhen und politischen Konflikt gesorgt. Ein Maßnahmenpaket der niederländischen Regierung betrifft neben der Industrie vor allem auch die Landwirtschaft. Konkret soll Viehbetrieben, die nahe einem Naturschutzgebiet liegen und maßgeblich zum Stickstoffproblem beitragen, ein Kaufangebot für ihren Betrieb gemacht werden. Lehnen diese das Kaufangebot ab, reduzieren gleichzeitig aber nicht die Nitratbelastung wie von der Regierung vorgegeben, sind Zwangsenteignungen momentan nicht ausgeschlossen.

Das Stickstoffproblem in den Niederlanden besteht darin, dass vor allem die Luft eine zu hohe Stickstoffbelastung aufweist. Genauer gesagt, gelangt Stickstoff durch Ausgasungen von Tieren, Ausdünstungen aus gelagerter Gülle und durch die Düngung von Feldern mit Gülle in die Luft. Auch in Deutschland kämpft man mit einem Stickstoffproblem: Hohe Nitratwerte in Luft, Grundwasser und Böden weisen darauf hin, dass in vielen Gebieten eine zu hohe Stickstoffbelastung besteht. Nitrat ist ein Salz, das aus Stickstoff und Sauerstoff besteht und als natürlicher Bestandteil in Düngern wie beispielsweise Gülle enthalten ist. Hintergrund ist, dass bei Nutztierhaltung viel Gülle anfällt, die im Normalfall als Dünger auf dem Feld ausgebracht wird. Allerdings können die Böden in vielen Gebieten in den Niederlanden und in Deutschland durch die steigende Menge an Gülle aus der Massentierhaltung aktuell keinen oder nur wenig Stickstoff aufnehmen. In niederländischen Naturschutzgebieten ist die Schadstoffbelastung seit Jahren zu hoch. Ammoniak, eine gasförmige Verbindung von Stickstoff und Wasserstoff, das vor allem von Viehbetrieben freigesetzt wird, verursacht dabei eine Großzahl der Emissionen. Überschüssiger Stickstoff gelangt von den Feldern in Seen, Flüsse und Meere, und wird bei starkem Regen auch ins Grundwasser gespült. Da Nitrat schwerwiegende gesundheitliche Folgen für Menschen haben kann, muss nitratbelastetes Wasser nach einem speziellen Verfahren kostspielig aufbereitet werden, um es trinkbar zu machen. Zwar ist Nitrat an sich nicht toxisch, es besteht jedoch die Gefahr, dass es im menschlichen Körper durch Bakterien in krebserregende Stoffe umgewandelt wird. Während der Körper eines Erwachsenen eine größere Menge an Nitrat verträgt, können Säuglinge an einer Überdosis durch Erstickung sterben.
Aufgrund des Gesundheitsrisikos und der Umweltbelastung, sind die Europäische Union (EU) und ihre Mitgliedsstaaten sich einig darüber, dass Nitratwerte dringend gesenkt werden müssen. Uneinigkeit herrscht hingegen darüber, wie dies konkret vonstattengehen soll. In Übereinstimmung mit EU-Vorgaben bestimmt ein höchstrichterliches Urteil von 2019 in den Niederlanden, dass Stickstoffnormen nicht mehr länger überschritten werden dürfen. Daraufhin hat die niederländische Regierung entschieden, dass die Emissionen von Stickoxiden und Ammoniak bis 2030 um 50% reduziert werden müssen. In Naturschutzgebieten sollen sogar bis zu 70% der Emissionen eingespart werden. Während Stickoxide durch Verkehr und Industrie freigesetzt werden, entsteht Ammoniak fast ausschließlich durch Nutztierhaltung. Da Viehbestände nach Behördenangaben für rund 40% des Schadstoffausstoßes verantwortlich sind, sollen diese zudem auch zahlenmäßig reduziert werden. Zwar wurden noch keine endgültigen Maßnahmen vorgestellt, die Regierung erklärte jedoch, dass es aus ökologischen, ökonomischen, aber auch sozialen Gründen notwendig sei, die Stickstoffwerte kurzfristig maßgeblich zu verringern. Laut der niederländischen Zeitung De Volkskrant hat eine Gruppe von 2500 Landwirt*innen mit dem sog. Green Farmers Plan folglich einen Zehn-Punkte-Plan für ökologischere Landwirtschaft vorgelegt, der vor allem mehr Anreize für Bio-Bauern fordert.

Auch wenn die geplanten Maßnahmen aus Umwelt- und Gesundheitsgründen gerechtfertigt sind, stellt die Stickstoffreduktion eine Herkulesaufgabe für die Politik und Landwirtschaft dar. Vor einer beispiellosen Herausforderung stehen dabei vor allem die Landwirte und Landwirtinnen mit Nutztierhaltung. Nach Berechnungen der niederländischen Regierung könnten bis zu 30% der Viehbetriebe, die zu den größten Stickstoffverursachern zählen, ihre Existenz verlieren, weil sie die Vorgaben zur Stickstoffreduzierung in dem vorgegebenen Zeitraum nicht umsetzen können. Auch die niederländische Wirtschaft mit ihrem bis dato starken Agrarsektor wird dies zu spüren bekommen, denn die Niederlande exportieren weltweit mit am meisten landwirtschaftliche Produkte. Die Niederlande ist nach den USA der zweitgrößte Agrarexporteur der Welt, gleichzeitig zählt das Land aber auch zu den größten Treibhausgasemittenten Europas. Trotz Versprechen der niederländischen Regierung, dass man die landwirtschaftlichen Betriebe unterstützen werde, werden viele von ihnen die neuen Umweltauflagen nicht erfüllen können.
Da der Verkauf eines landwirtschaftlichen Betriebes vor allem ein Existenz- und Identitätsverlust bedeutet, ist dies für viele Landwirt*innen trotz der finanziellen Anreize keine Option. Zuletzt haben sich Mitte März, kurz vor den niederländischen Provinzwahlen, etwa 25.000 Menschen in Den Haag versammelt, um gegen die Senkung der Stickstoffemissionen zu demonstrieren. Darunter waren auch viele Landwirt*innen, die trotz eines Behördenverbots mit Traktoren in die Hauptstadt gereist sind. Was sie antreibt, sind zunehmende Existenzängste und keine Perspektiven für die Landwirtschaft, insbesondere für klein- oder mittelständische Betriebe. Die Stimmung im Land heizt sich weiter auf und radikalisiert sich, was die politische, aber auch emotionale Dimension des Konfliktes deutlich macht. Indem sie Autobahnen und Supermärkte blockieren, protestieren die Landwirt*innen gegen strengere Umweltauflagen und für das Bestehen ihrer Betriebe. Seit letzten Jahres hat die Gewaltbereitschaft unter den Protestierenden zugenommen und es wurden beispielsweise auch Brände gelegt und Politiker*innen bedroht. Auch wenn es vorwiegend die Berufsverbände der Landwirt*innen sind, die die Demonstrationen organisieren, nutzen rechtspopulistische Parteien die Gelegenheit gegen die Regierung zu schüren und potenzielle Wähler*innen unter den Protestierenden anzuwerben.
Während in Deutschland noch lange nicht die Rede von Enteignungen ist, nehmen auch hierzulande die Proteste der Landwirt*innen bezüglich Düngeregelungen zu. Wenn staatliche Unterstützungen ausbleiben, bedrohen gesetzliche Vorgaben zum Schutz der Umwelt die Existenz der landwirtschaftlichen Betriebe in der EU. Zwar braucht es die EU-Vorgaben zur Senkung von Nitratwerten, um der Klimakrise gerecht zu werden, allerdinge müssen landwirtschaftliche Betriebe in der Realität auch weiterhin die aus Viehhaltung und Biogasanlagen entstehende Gülle ausbringen. Die Landwirt*innen stehen folglich vor einem finanziellem und existenziellem Dilemma, auch weil viele in den letzten Jahren noch nachhaltige Investitionen getätigt haben. Vonseiten der Bäuerinnen und Bauern gibt es außerdem Kritik, was die lokalen Schadstoffmessungen angeht. Konkret fordern sowohl niederländische als auch deutsche Landwirt*innen mehr Zeit für die Umstellung ihrer Betriebe, technische Innovationen und eine Zukunft für die bäuerliche Landwirtschaft, die vorwiegend auf Familienbetrieben basiert. In Deutschland fehlt vor allem eine gesicherte Investitionsförderung und eine Änderung des Bau- und Emissionsschutzrechts, um den kleinen und mittelgroßen landwirtschaftlichen Betrieben eine Perspektive zu bieten. Gerade diese könnten substanziell zu einer nachhaltigen regionalen Landwirtschaft beitragen und die umweltschädigende Industrialisierung des Agrarsektors in der EU ausbremsen.
Quellen:
https://www.spiegel.de/wirtschaft/landwirtschaft-niederlande-drohen-bauern-im-nitrat-streit-mit-enteignung-a-3216b0ff-8e60-4961-a8ac-a7a684a88e2e
https://www.spiegel.de/ausland/niederlande-proteste-gegen-neue-umweltauflagen-tausende-landwirte-gehen-auf-die-strasse-a-df7f9a5c-3b07-4ff6-bd5a-66fb0f40dc16
https://www.ndr.de/nachrichten/niedersachsen/Nitrat-im-Grundwasser-Niederlande-will-Hoefe-zur-Not-enteignen,grundwasser206.html
https://www.wiwo.de/politik/ausland/bauernproteste-in-holland-boerenprotesten-in-den-niederlanden-grossdemo-gegen-umweltauflagen/28483932.html
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