Bezahlbarer Bezug von Energie jeglicher Art ist für uns eine Selbstverständlichkeit. Ob Strom, Gas oder Benzin, ob Endverbraucher, Gewerbe oder Industrie, ob für Wärme, Mobilität, Fernseher, Laubbläser und den Flug in den Urlaub: Jede Form von Energie war stets verfügbar und für die Durchschnittsverdienerin auch bezahlbar. Energie als kostbares soziales Gut? Mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine hat sich an dieser Situation einiges geändert.
Die Ursachen
Deutschland hat es in den vergangenen Jahren versäumt, seine Bezugsquellen beim Erdgas zu diversifizieren und sich in Abhängigkeit von Russland begeben.
Kriegsherr Putin herrscht über gigantische Reserven an Gas, Öl und Kohle. Das verleiht ihm die Macht, die Versorgung mit Energie als Waffe durch Durchsetzung seiner politischen Interessen zu benutzen. Deutschland und mit uns halb Europa hat er in den ökonomischen Schwitzkasten genommen. Eine Folge sind noch nie dagewesene Höchstpreise für fossile Brennstoffe. Für Erdgas und die Substitute wie Brennholz, Pellets oder Flüssiggas musste in diesem Jahr ein Mehrfaches gegenüber 2021 gezahlt werden.
Ohne in die parteipolitische Auseinandersetzung einzugreifen, lässt sich konstatieren: Deutschland hat es in den vergangenen Jahren versäumt, seine Bezugsquellen beim Erdgas zu diversifizieren und sich in Abhängigkeit von Russland begeben. Mehr als die Hälfte unseres Erdgases kam in 2021 aus Russland. Nach Inbetriebnahme von Nord Stream II wäre der Anteil weiter gestiegen. Der offenkundigen Expansionsgelüste und den Erfahrungen mit der Brutalität des russischen Autokraten zum Trotz setzten die deutsche Regierungspolitik und die im Russlandgeschäft tätigen Unternehmen auf „business as usual“. Eine schwerwiegende Fehleinschätzung.
Auf dem Strommarkt, bei dem die Verstromung von Erdgas nur eine Nebenrolle spielt, kam erschwerend hinzu, dass in Frankreich gleich mehrere Atomreaktoren vom Netz genommen werden mussten. Ursächlich dafür waren die sommerliche Dürre und der daraus folgende Mangel an Kühlwasser sowie technische Ausfälle und notwendige Revisionen im veralteten Kraftwerkspark.
Die Folgen
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist nicht abschätzbar, welche ökonomischen und sozialen Folgen der Krieg in Deutschland und Europa haben wird. Sicher ist schon heute: Es sind die stärksten Erschütterungen für Wirtschaft und Gesellschaft seit der Nachkriegszeit. Ökonomisch sind alle betroffen. Die Inflationsrate steigt in den zweistelligen Bereich. Erste Unternehmen schließen, weil die Produktion durch die gestiegenen Energiepreise nicht mehr lohnt. Ganze Branchen mit mehr als 100.000 Mitarbeiterinnen drohen ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren. Hunderte Firmen, die mit Gas handeln – darunter viele Stadtwerke, mussten durch den Staat geschützt werden. Vorlieferanten wurden gar durch den Staat übernommen.
Weil die Nach- und Abschlagszahlungen für Heizung und Strom Beträge von einigen tausend Euro erreichen können, könnte die Energiearmut im Mittelstand ankommen. Bei energieintensiven Handwerksbetrieben wie Bäckereien, Metzgereien, Mühlen und anderen ist dies längst geschehen. Je nach dem, welche Verträge abgeschlossen wurden, können sich die Energiekosten um 300 oder 400 Prozent erhöht haben. Derartige Kostensteigerungen lassen sich kaum an die Kunden weiter reichen.
Energie als soziales Gut
In einigen Branchen läuft ein Kampf ums ökonomische Überleben, in dessen Folge die gesamte Wirtschaft in Not geraten könnte. Der Ausgang der ökonomischen Konfliktlage mit zunehmenden negativen Auswirkungen auf die Stimmung in der Gesellschaft hängt unter anderem ab von:
- Dauer des Krieges und sein Ausgang,
- der Intensität des Krieges und das Übergreifen der Auseinandersetzung (in Form von Sabotageakten auf die kritische Infrastruktur, Cyberwar-Attacken oder nuklearen Drohungen – alles mit Auswirkungen auf die Energiepreise,
- dem Grad der Kooperation der europäischen Staaten,
- solidarischem Verhalten innerhalb der europäischen Gesellschaften,
- politischer Kooperation der demokratischen Parteien,
- der Wirkung der sozialen Ausgleichsmechanismen des Staates,
- den Temperaturen im Herbst und im Winter sowie
- dem Verbrauch der privaten, gewerblichen und industriellen Kunden.
Der schnelle Ausbau der erneuerbaren Energien wird mittelfristig helfen, die Energiepreise zu stabilisieren. Kurzfristig – also in den Jahren 2023 und 2024 – werden neue Anlangen keinen nennenswerten Beitrag zur Entspannung leisten können. Umso wichtiger wird es sein, denen zielgerichtet zu helfen, die Hilfe dringend benötigen. Denn aktuell geht es darum, akute finanzielle Not zu lindern. Der Rückblick, dass ein früherer und schnellerer Ausbau der Erneuerbaren uns diese Situation erspart hätte, hilft niemandem.
Es ist nicht falsch zu konstatieren, dass wir zu sorglos und mitunter verschwenderisch mit Energie umgegangen sind. Vielleicht hilft uns das, den Zugang zu Energie als sozialem Gut wieder zu entdecken. Bei allen richtigen Appellen zum Energiesparen dürfen wir nicht vergessen, wie lebenswichtig der Zugang zu einer energetischen Grundversorgung ist. Man mag darüber streiten, ob 19° oder 20° eine noch zumutbare Raumtemperatur ist. Heizen müssen jedoch alle. Und ältere Menschen haben einen höheren Wärmebedarf. Geheizt werden müssen Schulen und Kindergärten. Hunderttausende Menschen würden arbeitslos, wenn wir kein Erdgas mehr zur Verfügung hätten.
Energie als soziales Gut zu erhalten, ist eine hoch komplexe Herausforderung. Es geht ebenso um Außen- wie um Sicherheitspolitik. Es geht um die Wirtschaft und das Funktionieren des Sozialstaates. Europa ist ebenso gefragt wie Bund, Länder und Gemeinden. Wir erwarten ein spannendes Schwerpunktthema „Energie – das kostbare soziale Gut“.
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