Das Quartier als Schlüssel zur Energiewende

Gastautor Portrait

PD Dr. Christian Growitsch

Leiter des Fraunhofer-Zentrums für Internationales Management und Wissensökonomie IMW

PD Dr. Christian Growitsch ist seit Mai 2021 Leiter des Fraunhofer-Zentrums für Internationales Management und Wissensökonomie IMW in Leipzig und Halle/Saale. Der habilitierte Ökonom war zuvor Direktor für Technologiemarketing und Geschäftsmodelle in der Zentrale der Fraunhofer-Gesellschaft. Er lehrt Volkswirtschaftslehre an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.

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10. Januar 2022

Mit dem novellierten Klimaschutzgesetz wurden die Zielvorgaben zur Reduktion der Treibhausgasemissionen im Sommer 2021 deutlich verschärft. Im Koalitionsvertrag schlagen die Ampel-Parteien nun zahlreiche Maßnahmen vor, wie die Ziele im Gebäudesektor und anderen Bereichen erreicht werden können. Dabei nehmen die Koalitionspartner das »Quartier« als Teil einer Stadt stärker ins Blickfeld. Christian Growitsch, Leiter des Fraunhofer-Zentrums für Internationales Management und Wissensökonomie IMW erläutert, warum Klimaschutz und Stadtentwicklung Hand in Hand gehen müssen und dafür das Quartier der geeignetste Ort ist.

Koalitionsvertrag greift Quartiersansatz auf

Auf Geheiß des Bundesverfassungsgerichts schärfte die schwarz-rote Bundesregierung in diesem Sommer ihr 2019 auf den Weg gebrachtes Klimaschutzgesetz nach und erhöhte die Zielvorgaben zur Reduktion der Treibhausgasemissionen deutlich. Im Koalitionsvertrag unterlegen die Ampel-Parteien SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP die Vorgaben des novellierten Klimaschutzgesetzes nun mit ambitionierten Maßnahmen. Dabei geht es um weit mehr als den ins Stocken geratenen Ausbau der Erneuerbaren Energien zur Stromerzeugung.

Im Gebäudesektor etwa sollen in den kommenden Jahren die Effizienzhausstandards in der Bestandssanierung auf EH 70 und im Neubau auf EH 40 angehoben werden. Neben Effizienzmaßnahmen bei Einzelgebäuden nehmen die Koalitionspartner das »Quartier« stärker ins Blickfeld.

Das Stadtquartier als optimales Erprobungsfeld

Das Quartier als Teil einer Stadt ist ein meist nur aus einigen Straßenzügen bestehendes, soziales Bezugssystem. Im Vergleich zu Einzelgebäuden bietet es bei der Steigerung der Energieeffizienz zahlreiche Synergieeffekte zwischen den Akteuren, etwa bei der Versorgung durch Wärmenetze, der seriellen energetischen Sanierung oder der lokalen Erzeugung Erneuerbarer Energien. Zugleich ist das Quartier im Vergleich zum Stadtteil überschaubar genug, um lokale Akteure zu mobilisieren und die Bürgerinnen und Bürger aktiv an Entwicklungsprozessen teilhaben zu lassen. Ziel muss es sein, bisherige Insellösungen und neue Systemlösungen unter Einbeziehung der Vielzahl von Akteuren sinnvoll zu verknüpfen, um eine Optimierung des Energieverbrauchs über das gesamte Quartier vorzunehmen.

Komplexe Kopplung der energieverbrauchenden Sektoren

Im nächsten Schritt muss es nun darum gehen, die Sektorenkopplung auf die Bezugsgröße Quartier zu skalieren [...]

PD Dr. Christian Growitsch

Ein wesentlicher Schlüssel zum Erfolg ist die Sektorenkopplung. Die Verknüpfung der bislang getrennten energieverbrauchenden Bereiche Strom, Wärme und Mobilität mithilfe der Digitalisierung ermöglicht einen verbesserten Ausgleich der fluktuierenden Strommengen aus Erneuerbaren Energien im Stromnetz. Wenn bekannt ist, wie viel Strom aktuell erzeugt und im Quartier verbraucht wird, kann nicht benötigter Strom zwischengespeichert oder in anderen Sektoren genutzt werden.

Die Energiewende trägt damit zugleich zur Dekarbonisierung der Wärmeerzeugung und des Verkehrs bei. In modernen Einzelgebäuden gelingt die Kopplung von Strom, Wärme und Mobilität dank intelligenter Gebäudesteuerung bereits sehr gut. Bekannte Beispiele sind die Wärmepumpe und das Elektroauto, die Strom aus der Photovoltaik-Anlage auf dem Dach nutzen.

Im nächsten Schritt muss es nun darum gehen, die Sektorenkopplung auf die Bezugsgröße Quartier zu skalieren, dabei die Komplexität beherrschbar zu machen, Erfahrungen zu sammeln und bestehende Hürden abzubauen.

Pilotprojekte legen die bestehenden Hürden offen

Erste Pilotprojekte befinden sich derzeit in der Planung und Umsetzung. Ganz entscheidend für den Erfolg smarter Quartiere ist die Vernetzung aller relevanten Akteure. Der 2018 initiierte Open District Hub e. V. (ODH) versteht sich als eine neutrale Vernetzungsplattform zur Entwicklung skalierbarer Systemlösungen für die nachhaltige Energiewirtschaft und die Quartiersbewirtschaftung. Erfahrene Akteure aus den Bereichen der Energie- und Immobilienwirtschaft, Softwareentwicklung, Quartiersentwicklung, Gebäudeautomatisierung sowie Vertreter aus Forschung, Beratung sowie Vereinen und Verbänden bringen ihre Kompetenzen in die gemeinsame Realisierung von Pilotanlagen und Forschungsprojekten ein, etwa im Wohnquartier Bochum-Weitmar mit 232 Mehrfamilienhäusern und über 1500 Wohnungen, viele davon aus den 1950er und 1960er Jahren mit hohem Sanierungsbedarf. Außerdem soll im Demonstrationsprojekt der Stadt Leipzig »SPARCS – Sustainable energy Positive zero cARbon CommunitieS«, an dem sechs weitere europäische Städte und 30 Projektpartner beteiligt sind, in rund 100 Einzelvorhaben gezeigt werden, wie Quartiere zu einem intelligenten Energiesystem vernetzt werden können.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass es auf dem Weg zu einer intelligenten Energieversorgung im Quartier zahlreiche Hürden gibt, die überwunden werden müssen:

  • Die technische Umsetzung der Sektorenkopplung im Quartier ist komplex.
  • Es existiert keine »one size fits all«-Lösung für die Dekarbonisierung von Quartieren.
  • Die Vielzahl der Akteure und Anspruchsgruppen im Quartier ist groß und sie alle müssen früh in den Prozess der Quartiersentwicklung eingebunden werden.
  • Es fehlen wichtige Innovationsanreize.
  • Regulatorische Rahmenbedingungen verhindern die Umsetzung neuer, vor allem digitaler Geschäftsmodelle.
  • Langwierige Genehmigungsverfahren bremsen Umsetzungsprojekte aus.
  • Der Fachkräftemangel wird zum Bottleneck für die Energiewende.

Flankierende politische Maßnahmen notwendig

Klimaschutz und Stadtentwicklung können nur gelingen, wenn wir sie miteinander verflochten denken [...]

PD Dr. Christian Growitsch

Wenn wir die nationalen und internationalen Klimaschutzziele erreichen wollen, bedarf es einer Stärkung des Quartiersansatzes durch rechtliche, organisatorische und förderpolitische Maßnahmen. Dazu zählen die Verankerung des Quartiersansatzes im Rechtsrahmen und die gesetzliche Vereinfachung der Eigenversorgung bzw. nachbarschaftlichen Versorgung mit Strom und Wärme.

Für eine gelingende Energiewende im Quartier braucht es neben der weiteren Optimierung von Komponenten und Technologien vor allem Strategien, Finanzierungs-, Geschäfts- und Betreibermodelle und quartiersbezogene Vermarktungsmodelle, deren Entwicklung nur durch eine bessere Unterstützung der Zusammenarbeit der Akteure im Quartier gelingen kann. Dazu zählt insbesondere auch die gezielte Unterstützung von Städten und Kommunen in ihrer erfolgsentscheidenden Aktivierungs-, Koordinierungs- und Schnittstellenfunktion. Schließlich braucht es eine Überarbeitung des Förderinstrumentariums mit dem Ziel, dass Innovationen, die in F&E-Projekten und Reallaboren erprobt wurden und praxistauglich sind, so gefördert werden, dass sich die Technologien etablieren, schneller kostengünstig und effizienter werden können.

Schlussendlich gilt: Klimaschutz und Stadtentwicklung können nur gelingen, wenn wir sie miteinander verflochten denken: Denn ohne erfolgreiche Klimapolitik keine lebenswerte Stadt. Und ohne intelligente und nachhaltige Stadtentwicklung kein wirksamer Klimaschutz.

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