Wasserstoff im Wärmesektor – Champagner oder Grundnahrungsmittel?

Gastautor Portrait

Dr. Christoph Gatzen und Maximiliane Reger

Frontier Economics
09. Februar 2022

Klima- und Umweltschutz im Fokus

Spätestens bis zum Jahr 2045 soll Deutschland treibhausgasneutral werden – ein ehrgeiziges Ziel, das heute schnelles und weitsichtiges Handeln erfordert. Der Stromsektor spielt für die bevorstehende Transformation dabei eine entscheidende Rolle. Durch die Elektrifizierung großer Teile weiterer Wirtschaftssektoren wird er vor eine beispiellose Herausforderung gestellt. Auch Wasserstoff wird für viele Sektoren zukünftig zweifellos von großer Bedeutung sein. Auch im Wärmemarkt?

Wärmewende als ein entscheidender Faktor der Defossilisierung

Neben den Bereichen Energiewirtschaft, Industrie und Verkehr ist der Gebäudesektor (119 Mio. tCO2) der größte CO2-Emittent in Deutschland und dazu noch der einzige Bereich, der die Jahresemissionsmengen des Bundesklimaschutzgesetzes in den Jahren 2020 und 2021 nicht einhalten konnte. Nichtsdestotrotz sollen die CO2 Emissionen in diesem Sektor in den kommenden acht Jahren (bis 2030) auf 67 Mio. tCO2 gesenkt werden – eine Reduktion, die zuvor über einen Zeitraum von 30 Jahren erreicht wurde.

In Deutschland gibt es ca. 18 Mio. Wohngebäude mit rund 42 Mio. Wohneinheiten. Aktuell wird deren Wärmeversorgung zu ca. 80% mit fossilen Energieträgern gedeckt (auch Strom u. Fernwärme haben fossile Brennstoffanteile) und muss nun dekarbonisiert werden.

Anteile der Endenergieträger zur Erzeugung von Raumwärme und Warmwasser (2019). Die Endenergieträger Strom und Fernwärme werden ebenfalls anteilig auf Basis der Primärenergieträger Gas und Kohle erzeugt.

Quelle: Frontier Economics basierend auf AG Energiebilanzen

Welche Rolle spielt der nachhaltige Wasserstoff im Wärmesektor dabei? Wird er eher der „Champagner“ der Energieversorgung? Oder eher das „Grundnahrungsmittel“?

Vielfältige Versorgungsaufgaben erfordern maßgeschneiderte Lösungen

In jedem Fall gilt, dass die Versorgungsaufgaben in den Gebäuden sich stark unterscheiden – je nach Größe, Alter und Sanierungsstand: es gibt Bestands- und Neubauten, EFH und MFHs, vermietete Objekte und Eigentum mit jungen bzw. alten oder auch armen bzw. wohlhabenden Bewohnern. Neben der Direktelektrifizierung durch Wärmepumpen und erneuerbare Energien vor Ort (Pellets, Solarthermie als Ergänzung,…) können auch erneuerbare Gase wie etwa Wasserstoff einen wichtigen Beitrag zur Wärmewende leisten.

Ein großer Teil des Gebäudebestands kann so auf emissionsärmere Energieträger umgestellt werden, ohne dass aufwändige energetische Sanierungen erforderlich werden. Diese sind gerade in Altbauten häufig notwendig, um die Effizienz vor dem Einbau von Wärmepumpen zu steigern. Dabei steht außer Frage, dass Sanierungen grundsätzlich eine zentrale Rolle in der Wärmewende spielen werden – allerdings sind heute ca. 87% des Gebäudebestands unsaniert oder nur teilweise saniert – bei einer Vollsanierungsrate von ca. 1%/a. Selbst bei der von der Bundesregierung angestrebten, ambitionierten Verdopplung der Sanierungsrate ist also davon auszugehen, dass sich eine großflächige Sanierung des Gebäudebestands über mehrere Jahrzehnte erstrecken wird.

Gebäude- und Heizungsbestand in Deutschland. Berücksichtigt sind alle Wohnungen auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland, die über ein Heizungssystem jedweder Art verfügen.

Quelle: Frontier Economics basierend auf BDEW (2021) Entwicklung des Wärmeverbrauchs in Deutschland, Basisdaten und Einflussfaktoren, 5. aktualisierte Ausgabe

Durch den ergänzenden Einsatz von erneuerbaren Gasen können somit mehr Gebäudetypen auch zudem kurzfristig (bei Blending sogar im Heizungsbestand) dekarbonisiert werden – und somit die Resilienz der Wärmewende insgesamt erhöht werden. Der europäische Verband der Heizungsindustrie hat sich sogar bereits für „H2 Readiness Pflicht“ für neue Gasheizungen ausgesprochen, um mögliche „Lock in Effekte“ bei fossilem Erdgas zu vermeiden.

Grüne Moleküle können zur Entlastung des Stromsystems beitragen

[...] die Elektrifizierung des Wärmemarktes wird zu sehr hohen zusätzlichen Stromspitzenlasten führen.

Dr. Christoph Gatzen und Maximiliane Reger

Das Stromsystem steht insgesamt vor einer Mammutaufgabe. Bis zum Jahr 2035 soll der Stromsektor selbst klimaneutral werden. Durch die zunehmende Elektrifizierung (Wärmepumpen, Elektromobilität) gilt es neben dem bereits geplanten Ausstieg aus fossilen und nuklearen Erzeugungstechniken weitere Hürden zu überwinden. Diese Herausforderungen betreffen die komplette Stromwertschöpfungskette, von der Erzeugung (EE-Ausbautempo und Versorgungssicherheit), über die Stromübertragungsnetze, die Speicher und die Verteilnetze. Der Wärmemarkt im Gebäudesektor ist ein „Saisongeschäft“- die Elektrifizierung des Wärmemarktes wird zu sehr hohen zusätzlichen Stromspitzenlasten führen. An kalten Tagen mit hohem Wärmebedarf ist zudem die Effizienz von Wärmepumpen schlechter. Um 15 Mio. Wärmepumpen hier dennoch „abzusichern“, würde man die gesicherte Leistung des aktuellen Kraftwerksparks ungefähr verdoppeln müssen. Allerdings nimmt die gesicherte Leistung gerade ab, da Kernkraftwerke sowie Stein- und Braunkohlekraftwerke stillgelegt werden (die deutschen ÜNB weisen bereits jetzt ein Defizit von 7 GW aus für das Jahr 2022, in denen wir von Stromimporten aus Nachbarländern abhängig sind.

Monatlicher Gasverbrauch, Stromverbrauch und Stromerzeugung aus Wind und PV (2020)

Quelle: Frontier Economics basierend auf Eurostat, Destatis und Fraunhofer ISE.

Durch den ergänzenden Einsatz von erneuerbaren Gasen im Wärmesektor kann das einheimische Stromsystem entlastet und die Resilienz der Energiewende gestärkt werden, insbesondere wenn auch Energieimporte und neben grünem Wasserstoff auch andere nachhaltige Gase zugelassen werden.

Die gute Nachricht - Erneuerbare Gase wären in ausreichendem Maß verfügbar

Dass Wasserstoff eine elementare Rolle in der Energiewende zukommen wird, ist in der politischen Debatte unumstritten – so steht der Aufbau von Erzeugungskapazitäten für grünen Wasserstoff auch im Fokus der neuen Bundesregierung. Durch Förderprojekte wie „H2 Global“ und die Einführung von „Contracts for Difference“ sollen Produktion und Handel von grünem Wasserstoff schnell industrielles Niveau erreichen. Die Möglichkeit, Wasserstoff von optimalen Produktionsstandorten (etwa in Südeuropa, Ukraine oder in der MENA Region) zu importieren (und zu speichern) stellt dabei einen entscheidenden Vorteil gegenüber der direkten Elektrifizierung dar. Kurz- bis mittelfristig stehen blauer Wasserstoff und Biomethan als CO2-neutrale Brückentechnologien zur Verfügung und auch türkiser Wasserstoff (via Pyrolyse) ist bald potenziell verfügbar. Entscheidend ist der politische Wille, diese Technologien zu akzeptieren und ihre grüne Eigenschaft im Vergleich zu fossilen Energieträgern fair und transparent zu „belohnen“.

Der Einsatz von grünen Gasen stärkt die Resilienz der Wärme – und Energiewende

Klar ist, dass eine so ambitionierte „Wärmewende“ nur gelingen wird, wenn alle Optionen genutzt werden [...]

Dr. Christoph Gatzen und Maximiliane Reger

Für den Klimaschutz ist jetzt schnelles Handeln entscheidend. Damit das vorhandene Treibhausgas-Budget nicht schon in den kommenden Jahren überschritten wird, müssen jetzt alle zur Verfügung stehenden Mittel genutzt werden. Gerade für die „Wärmewende“ kann Wasserstoff dabei eine wichtige Säule sein – um das Stromsystem zu entlasten, aber auch um die Systemkosten zu senken und die Sozialverträglichkeit zu erhöhen. Durch den Einsatz von erneuerbaren Gasen kann der Aufbau einer teuren, auf die Spitzenlast ausgelegter Infrastruktur eingedämmt und gleichzeitig die Kosten für Haushalte gesenkt werden. Klar ist, dass eine so ambitionierte „Wärmewende“ nur gelingen wird, wenn alle Optionen genutzt werden – dabei wird auch Wasserstoff Teil des erforderlichen Technologiemixes sein. Wenn wir die Infrastruktur schnell genug hochfahren und der Regulierungsrahmen steht und auch verlässliche langfristige Randbedingungen für Investoren im In- und Ausland liefert , muss (und sollte) H2 mittelfristig hierfür kein „Champagner“ sein.

Über die Autor*innen

Dr. Christoph Gatzen

Director im Geschäftsbereich „Energie“, Frontier Economics

Dr. Christoph Gatzen ist Director im Geschäftsbereich „Energie“ bei Frontier Economics in Köln. Er berät Kunden aus dem Energiesektor europaweit in Regulierungs-, Wettbewerbs- und Transaktionsfragen sowie bei Schiedsverfahren. Außerdem arbeitet regelmäßig an Projekten zur Klimapolitik, Auktionsdesign (RES-E und CRM), Flexibilitätsmärkten, Stromspeicherung und Marktdesignaspekten im weiteren Sinne, wie z.B. bei der Dekarbonisierung im Strom-, Wärme- und Verkehrssektor.

Kürzlich hat Christoph Gatzen mehrere Studien zu Sektorkopplung und synthetischen Brennstoffen geleitet, beispielsweise zu regulatorischen Hemmnissen für grünes Gas (wie z.B. Wasserstoff) und zur Ökonomie von synthetischen Brenn- und Kraftstoffen.

Maximiliane Reger

Consultant im Geschäftsbereich Energie, Frontier Economics

Maximiliane Reger ist Consultant im Geschäftsbereich Energie bei Frontier Economics in Köln. Sie unterstützt diverse Kunden aus dem Energiesektor in Schiedsverfahren, Fusionen und Transaktionen und bei klimapolitischen Fragestellungen. Dabei war sie zuletzt an verschiedenen Projekten zur Rolle synthetische Brennstoffe bei der Dekarbonisierung, etwa in den Bereichen Wärme und Verkehr beteiligt.

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