Mitgestalten! Mehr wirtschaftliche Teilhabe für die Beschleunigung der Energiewende

Gastautor Portrait

Dr. Arwen Colell

Geschäftsführerin, decarbon1ze GmbH

Dr Arwen Colell ist Expertin für Energiewirtschaft und gesellschaftliche Teilhabe. Ihre Promotion zu sozialen Innovationen in der Energiewende wurde vom Bayerischen Staatsministerium für Wirtschaft, Landesentwicklung und Energie mit dem Bayerischen Energiepreis ausgezeichnet. Arwen ist Mitgründerin der Berliner Stromnetzkaufgenossenschaft BürgerEnergie Berlin eG und Aufsichtsratsmitglied der Stromnetz Berlin. Sie ist Geschäftsführerin und Co-Founder von decarbon1ze. Das Berliner Energiewende Start-Up arbeitet an neuartigen Messdienstleistungen für Mobilstrom, Quartiersstrom und Wärmestrom. https://www.linkedin.com/in/dr-arwen-colell-4a724631

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07. Dezember 2022
Matej Kastelic/Shutterstock.com

Die Dekarbonisierung unseres Energiesystems rückt nah an den Alltag der Menschen heran. Wie und wann wir Energie verbrauchen, wird wesentlicher Baustein eines erneuerbaren Energiesystems. Umso wichtiger ist es, dass wir die Energiewende im Haushalt, in der Wärme und in der Mobilität nicht länger vor allem entlang von technischen Innovationen planen, sondern soziale Innovationen als Treiber der Transformation einbeziehen. In nie dagewesenem Tempo müssen wir unsere Wirtschaft dekarbonisieren um den Klimawandel auf ein noch erträgliches Maß zu begrenzen. Ohne gesellschaftliche und wirtschaftliche Teilhabe und attraktive Entscheidungsmöglichkeiten für Bürger:innen wird es nicht gelingen.

Bürgerschaftlich getragene Energieprojekte sind systematisch anders

[...] zeigen Bürgerenergieprojekte auch auf, dass eine bürgerschaftlich getragene Energiewende ein anderes Gesicht hat – eines, das Erzeugung, Effizienz und Einsparung ebenso zusammendenkt, wie die Daseinsvorsorge und Investitionen entsprechend der geteilten Werte vor Ort.

Dr. Arwen Colell

Im internationalen Vergleich fällt bei Ländern mit einem schnellen Hochlauf erneuerbarer Energieerzeugung auf, das Bürger:innen und bürgerschaftlich getragene Akteure wie Genossenschaften oder Community Trust Strukturen einen besonders großen Anteil an dieser Transformation haben. Sowohl finanziell als auch organisatorisch entstanden und entstehen Erzeugungsanlagen aber auch alternative Strukturen zur Verbesserung der Energieeffizienz, zur Reduktion des Verbrauchs und zur sogenannten Sektorenkopplung, also der Elektrifizierung von Wärme und Verkehr, zu erheblichen Anteilen in Bürgerhand.

Das galt für die ersten Jahre des Hochlaufs der erneuerbaren Energien in Deutschland, fällt aber international noch stärker auf in skandinavischen Ländern, in Schottland oder Spanien. In Deutschland wurde dies oft mit dem mächtigen Instrument der Anschubfinanzierung durch garantierte Einspeisevergütungen erklärt.

Doch wenngleich die sicheren Investitionsbedingungen und die Kleinteiligkeit erneuerbarer Erzeugungstechnologien sicherlich wichtige Randbedingungen für individuelle oder gemeinsame Investitionen von Bürger:innen waren und sind, zeigen Bürgerenergieprojekte auch auf, dass eine bürgerschaftlich getragene Energiewende ein anderes Gesicht hat – eines, das Erzeugung, Effizienz und Einsparung ebenso zusammendenkt, wie die Daseinsvorsorge und Investitionen entsprechend der geteilten Werte vor Ort. Soziale Innovationen – die Macht, neue Organisationsformen, Entscheidungen und Finanzierungsstrukturen aufzubauen, aber auch die Kraft, eine neue Geschichte der Energiewende zu erzählen, lassen Energieprojekte entstehen, die den lokalen Bedürfnissen entsprechen und die integrierte, überregionale Perspektive eines vernetzten Energiesystems dennoch nicht aus den Augen verlieren.

Schottland: Regenwasserkraft und Netzdienlichkeit

Immer wieder fürchten Politik und Wirtschaft mangelnde „Akzeptanz“ der Energiewende bei Bürger:innen. Dabei lassen sich viele Menschen für die Spielräume begeistern, die sich durch kleinteiligere Erzeugungsanlagen oder die intelligente Vernetzung von Erzeugung und Verbrauch ergeben. Sie engagieren sich in bürgereigenen Strukturen, um Verantwortung übernehmen zu können aber auch um die eigenen Werte in wirtschaftliches Handeln zu übersetzen. Auf der schottischen Insel Mull widersetzten sich die Menschen den von der britischen Regierung zentral geplanten Windparks vor ihren Küsten. Stattdessen realisierten sie auf der regenreichen Insel kleine Wasserkraftanlagen, die mit der hügeligen Landschaft verwachsen können und gleichzeitig das feuchte Wetter vor Ort zum Vorteil der Gemeinden nutzen. Als klar wurde, dass sie mehr Energie erzeugen könnten, der Netzbetreiber den Anschluss an das Festland aber nicht sicherstellen konnte, ging die Gemeinde einen Schritt weiter. Auch Wärme und Verkehr wurden vor Ort schrittweise elektrifiziert, und entlasteten durch ein intelligentes Verbrauchsmanagement den Netzanschluss an das Festland. Die Insel beförderte damit auch das Praxiswissen zur Verbrauchssteuerung.

Dänemark: Energiewende als Nachbarschaftshilfe

Dass lokale Anforderungen mit vernetzten Bedarfsanalysen jenseits der eigenen Gemeinschaft zusammengedacht werden können, zeigt auch die dänische Insel Samsö. In nur zehn Jahren wurde die gesamte Energieversorgung der Insel auf erneuerbare Ressourcen umgestellt. Zwei Besonderheiten stechen in dieser Transformationsgeschichte hervor. Anstelle einer zentralisierten Planung wurde eine Vielzahl technischer Möglichkeiten der Umstellung in Haushaltsstrom, Wärme und Mobilität diskutiert und Bürger:innen und Gemeinden der Insel wählten unterschiedliche Pfade der Dekarbonisierung. Der entstandene Flickenteppich organisatorischer Strukturen und technischer Realisierung bildet die Präferenzen der Bürger:innen ab und trug wesentlich dazu bei, das die Transformation gemeinsam getragen und entsprechend schnell umgesetzt werden konnte. Ferner wurde die Umsetzung der Energieprojekte eng mit lokalen Gewohnheiten vernetzt.

Auf einer abgelegenen Insel, deren Bewohner:innen besonders aufeinander angewiesen sind, wurden nicht nur bestehende Gesprächsrunden vom Bauernverband bis zum Kleintierverein genutzt, sondern auch die geteilten Werte gegenseitiger Verantwortung angesprochen. Das Ergebnis ist nicht nur eine mit Stolz erzählte Geschichte über das Erreichte, sondern auch eine Inselgemeinschaft, die sich im Anschluss gleich das nächste Projekt, eine lokale Kreislaufwirtschaft, vornahm

Deutschland: Flexible Tarife für mehr wirtschaftliche Teilhabe

Die Verknüpfung sozialer und technischer Innovationen fasst Teilhabe nicht nur als Mitsprache, sondern auch als Mitwirtschaften. Die Spielräume, die sich hier eröffnen sind wesentlich, und haben das Potential die Energiewende nicht nur zu beschleunigen, sondern auch volkswirtschaftliche Kosten zu senken. Wenn wir Windstromüberschüsse regional flexibel zur Erwärmung von Warmwasserspeichern verwenden, nutzen wir vorhandene Kapazitäten effizient, vermeiden teure und verschwenderische Abregelung und können gleichzeitig Haushalte von günstigen Energiegestehungskosten profitieren lassen. Das Potential kleiner Flexibilitäten und bürgerschaftlicher Teilhabe sollten wir so oft wie möglich aktiv nutzen.

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