War watt? Gestern Atom, heute Diesel – warum der Staat nicht über Technologie entscheiden sollte

Gastautor Portrait

Hubertus Grass

Kolumnist

Nach Studium, politischem Engagement und Berufseinstieg in Aachen zog es Hubertus Grass nach Sachsen. Beruflich war er tätig als Landesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Prokurist der Unternehmensberatung Bridges und Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden. 2011 hat er sich als Unternehmensberater in Dresden selbständig gemacht.

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07. September 2017
Klimaschutz in der EU

Als in den USA die Umweltbehörde EPA den Diesel-Skandal aufgedeckt hatte und die Gerichte begannen, den Betrug der Autohersteller zu ahnden, passierte in Deutschland nichts Vergleichbares. Weder das zuständige Kraftfahrzeugbundesamt noch der Verkehrsminister taten das, was ihre Aufgabe gewesen wäre: An der Seite der Konsumenten zu stehen, sich für deren Rechte einzusetzen und den Betrug sowohl zivil- als auch strafrechtlich zu verfolgen. Stattdessen redete man höflich – ohne einen Vertreter der Verbraucher am Tisch – miteinander. Ist der Diesel eine Technologie, die unter dem Schutz des Staates steht?

Der Diesel war die von den letzten Bundesregierungen bevorzugte Variante, um im Verkehrssektor eine CO2-Minderung zu erreichen. Jahrelang hatte man sich ins Zeug gelegt für diese Technologie. Man hatte dem Treibstoff Milliarden schwere Steuererleichterungen zugestanden. Selbst die Abgas-Grenzwerte wurden mehrfach den Wünschen der Automobilindustrie angepasst. Für den Diesel machte sich die Bundeskanzlerin persönlich stark und intervenierte mit ihrem ganzen politischen Gewicht in der EU. Schon 2013 warf die Umweltorganisation Greenpeace ihr deshalb vor, …“demokratische Prozesse zu kidnappen und andere Regierungen einzuschüchtern, um einige wenige Luxusauto-Hersteller zu hätscheln“.

Ein Filz aus Industrie und Politik

Die Parteien der großen Koalition sind auf vielfältige Weise mit der Automobilindustrie vernetzt. Matthias Wissmann, Eckart von Klaeden und Thomas Steg bekleideten hohe Regierungsämter bevor sie die lukrativen Posten als Lobbyisten in der deutschen Automobilwirtschaft antraten. Auch Merkels ehemaliger Büroleiter, Michael Jansen, verdient sein Geld in der Branche.
Dank der Unterstützung durch die Politik liefen die Geschäfte der deutschen Autohersteller jahrelang wie geschmiert. Doch jetzt ist das Modell der politisch-industriellen Kooperation in eine Sackgasse geraten. Einerseits stehen die deutschen Hersteller im Verdacht, Kartellabsprachen getroffen zu haben – die EU-Kommission ermittelt, anderseits brechen die Verkaufszahlen für den Diesel massiv ein.

Wenn der Staat eine Technologie bevorzugt …

Zudem wächst die Gefahr, dass deutsche Autos im Zukunftsmarkt Elektromobilität global ihre Pole-Position verlieren. Nur noch zwei deutsche Hersteller sind unter den Top-Ten bei den verkauften Elektrofahrzeugen zu finden. Mit Tesla, BYD und BAIC liegen dort Newcomer vorn, die sich auf den neuen Markt spezialisiert haben.
Über viele Jahre haben es die Regierungsparteien versäumt, aus den industriepolitischen Fehlern der Vergangenheit zu lernen. Wer erinnert sich noch daran, dass der ehemalige Atom-Haftung, Technologie, die in die Sackgasse führteStaatskonzern Telekom uns in den 1990zigern millionenfach die ISDN-Technologie in unseren Wohnungen anschloss? Wenn der Staat oder seine Monopole vorgeben zu wissen, welche Technologie zukunftsfähig ist, sollten wir Vorsicht walten lassen. Nicht immer lassen sich die staatlichen Irrwege so preiswert abwickeln wie der bei der Telekom.
Ein Industriezweig, mit dem die Politik ähnlich stark verbunden war wie mit der Kfz-Industrie, ist die Energiewirtschaft. Am Anfang, in den 1950ziger und 1960ziger Jahren, musste die Politik nicht nur Schützenhilfe leisten, sondern die Konzerne geradezu überreden, in die neue Technologie der atomaren Energieerzeugung zu investieren. Aber nachdem die ersten Schritte getan waren, schritt man über Jahrzehnte Seit an Seit. Besonders eng wurde die Allianz aus Politik und Atomindustrie dann, wenn es galt, eines der zentralen Probleme dieser Technologie zu lösen: Wohin mit dem radioaktiven Müll?

…und den Markt durch Interventionen deformiert

Ähnlich wie heute beim Diesel setzte der Staat alles in seiner Macht stehende in Bewegung, um den einmal gewählten technologischen Pfad durchzusetzen. Wie wir heute wissen, scheuten die damaligen Verantwortlichen nicht davor zurück, wider besseres Wissens und in Missachtung geltender Gesetze fatale Entscheidungen zu fällen. Der Staat und seine Behörden brachen die Legalität, verschleierten und vertuschten, damit Lager für die schwach- und mittelradioaktiven Abfälle in der Asse und für hochradioaktive Abfälle in Gorleben gebaut werden konnten. An völlig ungeeigneten Standorten.

Zwei Untersuchungsausschüsse, im Bundestag (Gorleben) und im Niedersächsischen Landtag (Asse), brachten ans Licht, dass sich nicht nur Politiker, sondern auch Gutachter und Behörden zu Vollstreckungsgehilfen der Industrie gemacht hatten. Die zum Teil kriminelle Machenschaften werden in letzter Konsequenz dazu führen, dass wir mindestens einen hohen zweistelligen Milliardenbetrag aufwenden müssen, um diese Fehler zu korrigieren. Die Kumpanei von Politik und Industrie von damals wird übermorgen noch unsere Enkel belasten.

Das Tempolimit wird in Deutschland noch nicht einmal ernsthaft diskutiert

Warum haben die Bundesregierungen aus den Fehlentscheidungen in der Energiepolitik nichts gelernt? Spätestens seit 2012 war offensichtlich, dass man mit der Diesel-Strategie bei der CO2-Minderung den falschen Pfad eingeschlagen hatte. Die angegebenen Verbrauchswerte der Pkws stimmten auch nicht annähernd mit den Werten überein, die in der realen Praxis erreicht wurden. Diese dauerhafte Täuschung der Verbraucher ließ man der Industrie ebenso durchgehen wie den Trend zu immer schwereren Fahrzeugen mit immer stärkeren Motoren und dementsprechend höheren Verbräuchen und Abgaswerten. Der einfache Weg, CO2 im Verkehrssektor zu mindern, ist ein generelles Tempolimit. Dank des Einflusses der Auto-Lobby stand und steht diese Maßnahme in Deutschland nicht ernsthaft zur Debatte. Global gesehen hat Deutschland damit fast ein Alleinstellungsmerkmal. Rasen ohne Limit, das gibt es sonst nur noch in Somalia, Burundi und Nord-Korea.

Das Diesel-Desaster hätte nicht sein müssen

Dass die Politik sich um den Standort Deutschland kümmert, dass sie die Interessen der Industrie versteht und sich mit deren Vertretern bespricht – das gehört zu einer pluralistischen Demokratie dazu. Die Grenze zur Kumpanei wurde überschritten, als die Bundesregierung vorbehaltslos die Argumente der Industrie übernahm und mit wehenden Fahnen in den Fanclub „Pro Diesel“ eintrat. Es gehört nicht zur ordnungspolitischen Aufgabe Politik, sich im Wettbewerb für die eine oder andere Technologie zu entscheiden. Ordnungspolitik heißt, Ziele zu setzen und den Wettbewerb entlang der geltenden Gesetze zu organisieren. Und nicht die Gesetze und Vorschriften zu erlassen, um eine bestimmte Technologie zu protegieren und damit den Markt zu deformieren. Das hat uns schon in Sachen Atom nur Ärger bereitet. Das Diesel-Desaster hätte nicht sein müssen.

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