War watt? Die Luxus-Energiewende!?

Gastautor Portrait

Hubertus Grass

Kolumnist

Nach Studium, politischem Engagement und Berufseinstieg in Aachen zog es Hubertus Grass nach Sachsen. Beruflich war er tätig als Landesgeschäftsführer von Bündnis 90/Die Grünen, Prokurist der Unternehmensberatung Bridges und Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit beim Deutschen Evangelischen Kirchentag in Dresden. 2011 hat er sich als Unternehmensberater in Dresden selbständig gemacht.

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18. Januar 2018
War watt? ist die energiepolitische Kolumne unseres Moderators Hubertus Grass, der seit nunmehr 30 Jahren für die Energiewende streitet.

Es sieht aus wie Luxus. In manchen Nasen riecht es wie Luxus. Ist es Luxus? Gemeint sind die gigantischen Überkapazitäten, die wir uns in der Stromerzeugung leisten. In 2017 betrug die Netto-Engpassleistung, die zur Stromerzeugung zur Verfügung stand, gigantische 205,1 GW. (s. Datenblatt zur Leistungsbilanz Gesamtdeutschlands, Seite 35 des Berichts der deutschen Übertragungsnetzbetreiber zur Leistungsbilanz 2016 -2020) Auf der Nachfrageseite wurde an einigen Tagen maximal ein Bedarf von etwas über 80 GW abgerufen. Wir unterhalten derzeit zwei Stromsysteme: Das klassische konventionelle und die erneuerbaren Energien, die nur an wenigen Tagen des Jahres bisher in der Lage sind, die Nachfrage nach Strom nahezu vollständig zu decken. Oder anders betrachtet: Weil die Erneuerbaren so volatil sind, brauchen wir ein komplettes Backup-System in der Größe des Nachfrage-Peaks, um auch in Zeiten anhaltender Dunkelflaute gegen einen Black-out gefeit zu sein. Zwei parallele Systeme, die bezahlt und vorgehalten werden müssen. Luxus?

Die fundamentalen Kritiker der Energiewende formieren sich

Luxus
Verbrauch und Erzeugung in 2017. Die Verbrauchskurve immer unter 80 GW. Dem stehen max. Erzeugungskapazitäten von 205 GW gegenüber. Luxus? Durch Klicken auf das Bild geht es zur Quelle der Graphik bei Agora.

Und dann gibt es die Stunden, in denen wir den Strom verschenken. Und wenn es ganz hart kommt, erhalten die Käufer noch eine Prämie, damit sie uns den Strom abnehmen. Die Redakteure der Welt nennen negative Strompreise nicht Luxus, sondern „Irrsinn der Energiewende.“ Sie meinen: „Negative Preise an den Strombörsen gehören inzwischen zum Energiealltag. Immer wenn die deutschen Solaranlagen oder Windräder mehr Energie produzieren, als gerade benötigt wird, es zu einer Stromschwemme kommt, stürzen die Preise ab.“

Nicht nur in der Tageszeitung Die Welt: Die Energiewende steht an breiter Front in der Kritik. Und die Unsicherheiten bei der Regierungsbildung in Berlin sind ein probater Zeitpunkt, um Einfluss zu nehmen und das gesamte Konstrukt zu diskreditieren. Hans-Werner Sinn, Luxus? Anzahl der Stunden mit negativen Preisenemeritierter Professor für VWL an der LMU in München und ehemaliger Leiter des Ifo-Institutes, weiß, wie man Debatten beeinflusst. Zum Beispiel mit politischen Kampf-Begriffen. Die volatilen Erneuerbaren erzeugen in seiner Diktion „Zappelstrom“. Die Netzgemeinde freut sich wie Bolle über solche Kraftausdrücke aus wissenschaftlichem Munde und flutet die sozialen Netzwerke mit dieser Interpretation.

Luxus, Irrsinn, Zappelstrom: Ist es so schlecht um die Energiewende bestellt? Unterliegt sie einem grundsätzlichen Konstruktionsfehler? Übernehmen wir uns bei der doppelten Aufgabe, Atomausstieg und Kohleausstieg parallel zu stemmen?

Gehen wir der Kritik beispielhaft auf den Grund. Der von der Welt konstatierte „Irrsinn“ der negativen Strompreise fand in 2017 an 146 Stunden des Jahres statt. Das sind 1,67 Prozent der Jahresstunden. Keine Frage, negative Strompreise sind ein wirtschaftliches Ärgernis. Aber in dieser Größenordnung auch keine Katastrophe.

Die Erneuerbarem sind an allem schuld

Wo liegt die Ursache, dass die Erzeugung in manchen Stunden weit über den Bedarf hinaus geht? Für die Welt und andere Kritiker der Energiewende ist die Kausalkette klar: Weil das Überangebot an den Tagen mit viel Wind- oder Sonnenstrom entsteht, sind die Erneuerbaren die Verursacher des Marktversagens. Sie tragen auch die Schuld daran, dass Deutschland immer mehr Strom exportiert. 2017 mit dem neuen Rekord von über 60 Terawattstunden im Saldo. Was dann gern verschwiegen wird: Die Erneuerbaren müssen dann auch verantwortlich sein für die seit 10 Jahren anhaltend niedrigen Strompreise an der Börse.

Man könnte es aber auch anders sehen: Ein auf erneuerbare Energien und dezentrale Erzeugung beruhendes Energiesystem braucht eine flexible Ergänzung. Alte, inflexible Kraftwerke, längst abgeschrieben und von daher mit niedrigen Fixkosten am Markt, laufen mehr oder minder durch, weil sie unfähig sind, sich an die Erzeugungskurven von Sonne und Wind anzupassen. Ferner fehlt es im deutschen Markt an Flexibilitätsangeboten. Gerade weil der Strompreis (im Großhandel, nicht im Haushalt!) so niedrig ist, lohnt sich der Betrieb von Pumpspeicherkraftwerken immer weniger. Und schon gar nicht lohnt es sich, in weitere Flexibilitätsoptionen zu investieren. Immer mehr Erneuerbare ins Netz und das alte System daneben bleibt unverändert erhalten: So kann die Energiewende nicht funktionieren.

Lohnt sich der Streit?

Lohnt sich der Streit mit den Kritikern? Einerseits Ja. Denn die Energiewende braucht die kritische Auseinandersetzung. Sie ist kein Selbstzweck und ein aufwändiges Projekt. Die Kosten dürfen nicht aus dem Ruder laufen. Und die Verteilung der Kosten könnte schon seit langem mehr soziales Fingerspitzengefühl vertragen.

Andererseits Nein. In den langen Vorträgen eines Hans-Werner Sinn und vieler anderer Kritiker kommt der Klimaschutz, wenn überhaupt, dann nur am Rande vor. Im Zentrum ihrer Betrachtungen steht nicht die Frage, wie wir das Abkommen von Paris umsetzen können. Oder wie wir die einstige deutsche Vorreiterrolle im globalen Klimaschutz wieder zurück erobern können. Die Klimaveränderungen, die wir jetzt schon erleben, die Folgen des Klimawandels für die Landwirtschaft, Dürrekatrastrophen und ihre Folgen, usw. All dies ist in den Überlegungen der Fundamentalkritiker der Energiewende nur von marginaler Bedeutung. Beispielhaft sei der BDI genannt, der in seiner aktuellen Studie gleich mal empfiehlt, so Spiegel-Online, „…die Bundesregierung solle das Ziel, den eigenen CO2 -Ausstoß bis zur Mitte des Jahrhunderts um 95 Prozent zu reduzieren, besser gleich aufgeben.“ An Schamlosigkeit übertrifft der BDI die GroKo locker. Für eine Diskussion fehlt hier die Basis.

Luxus, der sich rechnet

Wer Klimaschutz als notwendig, dringend und mit Rücksicht auf kommende Generationen als ethisch geboten ansieht, wird nicht übereinkommen mit einer Haltung, in der der Klimaschutz eine abhängige Variable ist. Bei Hans-Werner Sinn, dem BDI und vielen anderen steht der wirtschaftliche Erfolg an oberster Stelle. Ihm hat sich der Klimaschutz anzupassen. Das macht eine Diskussion zwischen den verschiedenen Lagern schwierig, wenn nicht „Sinn“-los.

Und eines kommt erschwerend hinzu: Die fundamentalen Gegner der Energiewende haben die ökonomische Kausalität nicht begriffen. Sie argumentieren mit den, zugegeben, enormen Investitionskosten und dem Luxus des doppelten Energiesystems, das wir uns derzeit leisten. Sie verkennen, dass wir uns in einer Übergangszeit befinden. Nach dem Auslaufen der 20-jährigen Einspeisevergütung tendieren die Fixkosten von Sonne- und Windenergie gegen Null. Weil gleichzeitig die Flexibilitätsoptionen, alle Arten von Speichern und das Demand-Side-Management Dank der Digitalisierung und sinkender Preise günstiger werden, rechnet sich der Weg der Dekarbonisierung am langen Ende auch ökonomisch. Mehr Speed gewinnen die positiven wirtschaftlichen Effekte, wenn der ordnungsrechtliche Rahmen klug gesetzt wird. Im Wettbewerb wird schon morgen nicht bestehen, wer vor dieser globalen Entwicklung die Augen verschließt. Die fundamentalen Kritiker der Energiewende sind nicht nur miserable Klimaschützer. Ökonomisch leiden sie unter extremer Kurzsichtigkeit.

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  1. Gerd Bremer

    vor 2 Jahren

    Zum Speicherproblem, siehe den DIW Berlin Artikel: Die Energiewende wird nicht an Stromspeichern scheitern

  2. Holger Franz

    vor 6 Jahren

    Warum ist es scheinbar nicht möglich, die Argumentation von Sinn auch für Laien nachvollziehbar zu widerlegen? Haben wir ein Speicherproblem oder nicht? Muss weiterhin Strom für lau exportiert werden? Ich kann fachlich leider nicht beurteilen, ob Sinn mit seiner Kritik richtig liegt; seinen Kritikern hat er aber voraus, dass er seine Position deutlich verständlicher darlegen kann. Das sollte doch auch für Sie Ansporn genug sein.
    MfG

  3. Stefan Werner

    vor 7 Jahren

    Herr Grass, Sie geben in der Bildunterschrift eine Erzeugungskapazitäten von 205 MW an. Richtiger Weise müsste es 205 GW heißen.

    Allerdings sollte man aus meiner Sicht nicht mit dieser Zahl argumentieren, da es eine rein theoretische Zahl ist. Energiewendegegner würden entgegenhalten, dass dies Leistung in der Realität nie erreichbar ist und bei einer sogenannten Dunkelflaute allemal nicht.

    Tatsächlich haben wir derzeit aber dennoch rund 100 GW an gesicherter Leistung im deutschen Netz, also ganz ohne Wind- und Solarkraftwerke. Zudem stehen kurzzeitig noch rund 6 GW an Pumpspeicherkraftwerken zur Verfügung. Also weit mehr als genug um auf Nummer sicher zu gehen.

  4. Hubertus Grass

    vor 7 Jahren

    Danke, sehr geehrter Herr Werner, ich habe den Tipp-Fehler korrigiert.

    Inhaltlich stimme ich Ihnen vollkommen zu. Das ist ja gerade der Zusammenhang, den Energiewende-Gegner immer wieder aufgreifen: Die fossile Erzeungskapazität reicht aus. Die 100 GW (theoretische) Kapazität der Erneuerbaren, die zudem noch ausgebaut werden soll, brauchen wir nicht. Teurer Luxus oder Irrsinn heißt es dann.

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  5. Hans R. Burri

    vor 7 Jahren

    Schon wieder einer der TWh nicht richtig ausschreiben kann

  6. Hubertus Grass

    vor 7 Jahren

    Danke. Ist korrigiert. (Übrigens: Nach "einer" muss ein Komma stehen, denn es folgt ein Relativsatz.)

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