Liberalisierung und Digitalisierung des chinesischen elektrischen Energiesektors

Gastautor Portrait

Dr. Junqi Liu

Projektleiter bei der Forschung & Entwicklung der EnBW Energie Baden-Württemberg AG.

Dr. Liu ist ausgebildeter Elektro- und Informationstechniker und ist aktuell als Projektleiter zuständig für das Themenfeld Smart City bei dem F&E Bereich der EnBW. Zuvor hat Dr. Liu sich in der Forschung und in der Praxis mit verschiedenen Projekten für die deutsche Energiewende beschäftigt. Von 2017-2019 hat Dr. Liu als Entrepreneur die Liberalisierung und Digitalisierung des Energiesektors in seinem Heimatland China direkt erlebt und mitgewirkt.

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07. Mai 2020
Foto: Dr. Junqi Liu

Reform zum liberalisierten Strommarkt

Alte und Neue Stromwelt in China

Foto: Dr. Junqi Liu

Neuer Start der Liberalisierung des elektrischen Energiesektors als weiterer Anschub für die Volkswirtschaft

In der Historie der Volksrepublik China gab es bis 2015 drei große, vom Staat durchgeführte Reformierungen des elektrischen Energiesektors. In der Reform im Jahr 2002, die damals bereits mit der Zielsetzung der Liberalisierung gestartet wurde, ist am Ende lediglich gelungen, die elektrische Energieerzeugung zu einem wettbewerblichen Markt umzuwandeln. Seitdem hat sich die Wertschöpfungskette von Übertragung und Verteilung, bis hin zu Vertrieb der elektrischen Energien stark bei den Staatskonzernen State Grid China und South China Grid konzentriert, die zusammen über 95% der gesamten Stromversorgung in China abdecken.

Im März 2015 veröffentlichte die zentrale Volksregierung in Beijing das sogenannte Nr. 9 Positionspapier zur vertieften Reformierung des elektrischen Energiesektors als strategische Ausrichtung. Am Ende des Jahres 2015 und im Laufe des Jahres 2016, also zum Start des 13. Fünfjahresplans (2016-2020), kamen mehrere Papiere zu konkreten Handlungsfeldern und Maßnahmen dazu. U.a. wurde durch

  • den Aufbau und Etablierung von elektrischen Energiehandelsplätzen und Energiemärkten,
  • die Eröffnung des Stromvertriebsmarkts für industrielle und gewerbliche Verbraucher,
  • die Reform der Ermittlungsverfahren von Netzentgelten für elektrische Übertragungs- und Verteilnetze
  • und das Pilotprogramm für den Aufbau regionaler unabhängiger Stromversorger / Stromnetzbetreiber

die erneute Liberalisierung des Sektors richtig in Gang gesetzt.

Das leitende Gedanke dafür ist, den Zugang zu einem profitablen Markt der Stromversorgung weitergehend für weitere Interessengruppen aus der Privatwirtschaft zu ermöglichen und damit ein neues Wachstumsfeld für die gesamte chinesische Wirtschaft zu erschließen. Zugleich zielen die Regulierer auf eine Reduzierung der Stromkosten durch den Wettbewerb auf dem Gebiet des Stromhandels, was wiederum die Wettbewerbsfähigkeit der chinesischen Industrie verstärken kann. Diese Papiere waren ein Impuls für die gesamte Branche, der schon lange erwartet wurde und somit eine hohe Dynamik zur Folge hatte.

Eine der ersten Strombörse in China mit Handelsinfo auf großer Leinwand
Eine der ersten Strombörse in China mit Handelsinfo auf großer Leinwand

Foto: Dr. Junqi Liu

Schneller Vormarsch und nennenswerte Fortschritte in den ersten fünf Jahren

Als der Startschuss für einen liberalisierten Markt wurden bis September 2016 insgesamt 31 regionale Strombörsen, jeweils eine in jede Provinz, und zwei überregionale Strombörsen in Beijing und Guangzhou in den Stromversorgungsgebieten von State Grid China und South Grid China eröffnet.

Wie bei der gesamten Wirtschaftsreform in China übernimmt die Provinz Guangdong diesmal wieder die Rolle des Vorreiters ein. Bereits im Frühjahr 2016 wurde in der Region Stromhandel in Formen von Over-the-Counter und monatlichen Auktionen für bestimmte Erzeuger und große Industrieverbraucher gestartet, und dann für immer kleinere gewerbliche Verbraucher erweitert. Bis Mitte 2017 wurde in fast allen Provinzen der Stromhandel mit regional angepassten Marktregeln in Betrieb genommen. Der Spotmarkt für den Stromhandel wird als die wirkliche Umsetzung eines liberalisierten Strommarkts angesehen.  Mit dem Ziel, im Jahr 2020 in den realen Betrieb zu gehen, wurde dieser bereits 2018 in acht Pilotprovinzen mit einer Entwicklungs- und Testphase gestartet.

Die Privatwirtschaft, die sich schon lange über Marktverzerrungen beschwert hatte, reagierte wie erwartet mit großer Hoffnung auf ein neues riesiges lukratives Geschäftsfeld.  Allein im Jahr 2016 wurden über 5000 Stromvertriebsunternehmen mit privatwirtschaftlichem Hintergrund gegründet und sind seitdem die aktivsten Teilnehmer auf dem Markt. Jedoch rutschten viele Firmen wegen mangelnden Knowhows und unzureichendem Verständnis für Regulierungen und Marktregeln sowie durch den vom hohen Wettbewerb stark gedrückten Margen schon nach kurzer Anlaufzeit in die Verlustzone.

Einen weiteren wichtigen Pfad der Reform bildete die Pilotierung und der Aufbau von regionalen Stromversorgern und Netzbetreibern, um die Marktdominanz der Staatskonzerne weiter aufzubrechen. Es wurden über 300 regionale Verteilnetzbetreiber für kleine Städte, Gemeinden und Industriegebiete, auch mit Beteilung der Privatwirtschaft, gegründet. Sie bilden eine neue Gruppe von Marktteilnehmern, die ähnlich wie die Stadtwerke in Deutschland mehr als nur reine Stromversorgung, sondern auch umfangreiche Energiedienstleistungen anbieten. Allerdings leiden viele dieser neuen Netzbetreiber wie auch Stromhändler unter großem Druck der Profitabilität.

Nach vier Jahren Entwicklung wurden 2019 ca. 2,3 Petawattstunden Strom über die Strombörsen gehandelt, womit Stromkosten von insgesamt ca. 4,5 Billionen Euro für die industriellen und kommerziellen Verbraucher eingespart wurden. Damit kann man als erstes Fazit ziehen, dass in China die Strommarktreform mit einem grundlegenden Marktaktivitäten einen weiteren wichtigen Meilenstein erreicht hat.

Viele zu klärende Fragen für die nächsten fünf Jahre

Die Zentralregierung hat im Jahr 2019 auf verschiedenen Wegen klare Zeichen für weitergehende Reformen mit Schwerpunkt auf der Strommarktliberalisierung gesetzt. Allerdings kommen durch die Reformen eine Vielzahl an hochkomplexen Fragen und Herausforderungen auf:

  1. die Suche nach dem bestgeeigneten Marktdesign und Etablierung des Spotmarkts,
  2. zugleich die Sicherung des stabilen Netzbetriebs für die weiterwachsenden Versorgungsinfrastrukturen,
  3. überregionales und koordiniertes Stromhandeln für Fernübertragung der elektrischen Energie über tausende Kilometer,
  4. weitere Entlastungen der Stromverbraucher und zugleich Unterstützung für die Marktteilnehmer für ein profitables Geschäftsmodell.

Für den elektrischen Energiesektor sind fünf weitere spannende Jahre zu erwarten.

Digitale Energiewende

Vor diesem Hintergrund hat auch die angehende deutsche Energiewende für viel Aufmerksamkeit in China gesorgt.

Dr. Junqi Liu

Die digitale Energiewende startet zeitgleich mit der Reform des Strommarkts

Das Jahr 2015 war ein wichtiges Jahr für die neue Ausrichtung der Volkswirtschaft in China. Neben der angekündigten Strommarktreform gab die Regierung in Beijing im März ein weiteres Dokument mit mehreren Maßnahmen zur sogenannten „Internet+“-Strategie bekannt, die auf die Verzahnung und Integration des Internets und die Anwendung von Informationstechnologien in allen Industrien und Gewerben zielt. Damit wurden die Digitalisierung und die Entwicklung der digitalen Wirtschaft als eine nationale Strategie gestartet.

Die Informations- und Kommunikationstechnik (IKT) findet bei den chinesischen Energiekonzernen zwar bereits seit Jahren viele Anwendungen in der Automatisierung und Datenverarbeitung unter dem altbekannten Begriff „Smart Grids“ bzw. „Smart Energy“, leider aber nur sehr wenig bei den anderen Marktteilnehmern. Das Zusammenkommen der „Internet+“-Strategie mit der Reform zur Liberalisierung des Strommarkts wurde von der Branche als riesige Chance für die Umwandlung der Branche aufgenommen.

Vor diesem Hintergrund hat auch die angehende deutsche Energiewende für viel Aufmerksamkeit in China gesorgt. Unter anderem wurden die Leuchtturmprojekte des E-Energy-Programms des BMWi mit ihrem ersten innovativen Digitalisierungsansatz in einem liberalisierten Markt unter dem Begriff „Internet der Energie“ zum richtungsweisenden Vorbild und Benchmark für China.

Leitsystem für ein Industrie-Microgrid mit Sektorkopplung
Leitsystem für ein Industrie-Microgrid mit Sektorkopplung

Foto: Dr. Junqi Liu

„Internet der Energie“ öffnet Türen und Chancen für neue Teilnehmer

Die Digitalisierung des Energiesektors in China findet zuerst auf dem verbrauchernahen Markt die größte Anwendung. Dieses Marktsegment hat viele privatwirtschaftliche Unternehmen mit höherer Akzeptanz für Innovationen und bietet damit auch einen einfacheren Zugang für die neuen Marktteilnehmer aus der Internet-Branche mit viel Knowhow und Erfahrungen in der Digitalisierung.

Dafür haben sich Cloud Computing und IoT-Technologien rasend schnell als Standardtechnik durchgesetzt. Existierende Lösungen wie Energiemonitoring, Energiemanagement und Lastmanagement für Industrieverbraucher wurden konsequent in die Cloud transferiert, mit neuen Technologien und Konzepten wie Big Data, Predictive Maintenance und intelligenter Optimierung bereichert und dann als Software-as-a-Service (SaaS) angeboten. Monitoring und Management von dezentralen Energiesystemen mit PV Anlagen, Windturbinen und Speicheranlagen sind ebenfalls nur in Cloud-, SaaS- und mobilen Lösungen zu finden, die Funktionen für die Planung, die Abwicklung von Bestellungen sowie die Installation, Betrieb und Wartung komplett abdecken.

Die traditionellen Energiekonzerne bemühen sich ebenfalls sehr stark bei dem Thema, um den Anschluss nicht zu verlieren. Digitale Services wie mobile Bezahlungsapps für die monatliche Stromrechnung, mobiles Verbrauchsmonitoring und -analyse für Zuhause, eine App für Anschlussabwicklung und viele weitere wurden für jeden Endverbraucher zur Verfügung gestellt. Als Kernsystem des Stromnetzbetreibers stehen die Netzleitsysteme durch Aufrüstung mit Cloud Computing, Big Data und Künstlicher Intelligenz ebenfalls in Umwandlung. Und um ihre Position in einem liberalisierten Strommarkt zu verteidigen, haben die Energiekonzerne dank ihrer jahrzehntelanger Erfahrung über die gesamte Wertschöpfungskette sowie ihren enorm großen Netzwerken und riesigen Datenvorräten vielseitige Plattformgeschäfte gestartet.

Zur digitalen Energiewende haben die Internetriesen Alibaba, Tencent und Baidu einen wesentlichen Beitrag geleistet. Sie brachten nicht nur die Technik und Modelle der Digitalisierung mit, sondern auch den Mentalitätswandel aus der digitalen Wirtschaft. Beispielweise hatten viele neue Start-ups die Vision, für den Stromvertrieb und Stromhandel eine Handelsplattform zum TaoBao oder Alibaba des Strommarkts aufzubauen und sind dem Ziel auch mit ganz anderer Dynamik nachgegangen, als man es von der Branche zuvor gewohnt war.

Andererseits haben die Internetriesen von der digitalen Energiewende auch enorm profitiert. Sie erschlossen einen neuen großen Markt für ihre Cloud Systeme, Big Data Plattformen, WeChat, Alipay, Dingtalk usw. und bauten damit ihre Ökosysteme um weitere zehntausende Unternehmen aus. Zugleich bekamen sie Zugriff auf den enormen Vorrat von Wissen und Daten durch Kooperation mit den staatlichen Energiekonzernen.

Noch ein langer Weg für die digitale Wende in China

Allerdings läuft nicht alles reibungslos bei so einer so steilen Entwicklungskurve wie die der digitalen Energiewende. Die meisten Marktteilnehmer bemühen sich einerseits, möglichst schnell auf die neuen digitalen Technologien umzurüsten, zugleich müssen sie sich mit der rasant entwickelnden Marktregeln und dynamischer Marktsituation auseinandersetzen, was eine doppelte Belastung für sie bedeutet. Zudem sind die digitalen Geschäftsmodelle, die sich im E-Commerce bewiesen haben, nicht einfach übertragbar für den Energiesektor, da das Energiegeschäft mit ganz anderen Kundengruppen, Geschäftsprozessen und Modellen der Wertschöpfung zu tun hat. Die Wertschöpfung aus gewonnenen Daten und die Erbringung neuer Services für alle Stakeholder stellen die größte Herausforderung dar.

China hat aufgrund der Corona-Krise neulich ein neues Hilfspaket für die Wirtschaft angekündigt, dessen Schwerpunkt auf zukünftige digitale Infrastrukturen wie 5G, Cloud und E-Mobilität sowie deren enge Verzahnung liegt. Damit werden auch im Energiesektor neue Impulse für nächste Stufe der Digitalisierung gesetzt.

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