Nord Stream 2: Dimensionen eines Konflikts

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Dr. Severin Fischer

Gastautor

Dr. Severin Fischer arbeitet als Senior Researcher am „Center for Security Studies“ der ETH Zürich. Seine Forschungsbereiche umfassen europäische Energie- und Klimapolitik, Fragen der Versorgungssicherheit und Transformation. Zuvor war er an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin tätig. In seinem jüngsten Buch „Die Energiewende und Europa“ erläutert er zentrale Entwicklungen im Verhältnis deutscher und europäischer Energie- und Klimapolitik. (http://www.springer.com/de/book/9783658146238#aboutBook)

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01. August 2016

Die öffentliche Debatte über den Bau der Pipeline „Nord Stream 2“ durch die Ostsee zählt zu den heftigsten Kontroversen in der europäischen Energiepolitik seit einigen Jahren. Bemerkenswert erscheint in diesem Zusammenhang wie Außenpolitik, Versorgungssicherheit, Wettbewerbs- und Regulierungsfragen zunehmend miteinander verwoben werden.

Brexit schwächt die Fraktion der Gegner von Nord-Stream 2

Zuletzt waren es zehn US-Senatoren unter der prominenten Führung von John McCain und Marco Rubio, die in einem Brief an Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker einen Stopp des Projekts „Nord Stream 2“ forderten. Die ihrem Schreiben zugrundeliegende Argumentationslinie erscheint nicht neu: Die Pipeline gefährde Diversifizierungsbemühungen Europas bei der Erdgasversorgung, sie konterkariere die Stabilisierungsbemühungen in der Ukraine und folge den geostrategischen Anliegen Gazproms als Instrument des Kremls bei der Erhöhung der Abhängigkeit der EU von russischen Rohstofflieferungen. Ähnlich hatten sich auch die sieben Staats- und Regierungschefs mittel- und osteuropäischer Staaten in einem Brief mit vergleichbarem Inhalt Anfang des Jahres geäußert. Doch nicht nur unter den Mitgliedstaaten, sondern auch innerhalb des Europäischen Parlaments und in weiten Teilen der Kommission regt sich wachsender Widerstand. Während die Gegner des Projekts durch die Besetzung der transatlantischen Agenda zunehmend internationale Aufmerksamkeit erlangen, versucht das Unternehmenskonsortium seine wirkungsvollen Unterstützer in Europa zusammenzuhalten und deren Kreis langsam aber stetig zu erweitern. Neben der deutschen Bundesregierung, die von Beginn an eine zentrale Rolle in der Verteidigungsstrategie des Konsortiums spielte, hatten sich auch Frankreich, die Niederlande und Österreich mehr oder weniger deutlich für das Infrastrukturvorhaben ausgesprochen – sind ihre jeweils größten nationalen Öl- und Gasunternehmen doch am Projekt beteiligt. Aus der Gruppe der Projektgegner verabschiedete sich kürzlich Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi. Dieser hatte noch im Dezember des vergangenen Jahres während eines Gipfels der EU-Staats- und Regierungschefs Angela Merkel zu einer Rechtfertigungsrede aufgefordert und das Projekt gerne stoppen wollen, seine Haltung nach Gesprächen mit der russischen Seite jedoch kürzlich nachjustiert. Auch in der Fraktion der mittel- und osteuropäischen Staaten haben die Slowakei und Ungarn zunehmend erkennen lassen, dass ihre Ablehnung eher eine Frage der Rahmenbedingungen als der Grundsätze zu sein scheint. Entgegen der häufig vernommenen Wahrnehmung, Deutschland kämpfe innerhalb der EU isoliert für das Projekt, lassen sich zumindest auf der Ebene der Mitgliedstaaten deutliche Verschiebungen verzeichnen. Der Beschluss der britischen Wählerinnen und Wähler zum Austritt aus der Europäischen Union schwächt die Fraktion der Gegner des Projekts weiter, als deren zentrale Fürsprecher sich derzeit nur noch Polen und die baltischen Staaten rechnen lassen können.

Mögliche Routen für Nord Stream 2
Mögliche Routen für Nord Stream 2 (Quelle Nord stream 2)

Grundsätzliche Differenzen in der Außenpolitik

Im Mittelpunkt der Debatte über die „Nord Stream 2“-Pipeline stehen grundsätzlich unterschiedliche Sichtweisen auf außen-, sicherheits- und energiewirtschaftliche Fragestellungen. Nach der Annexion der Krim und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine haben sich die EU-Mitgliedstaaten außenpolitisch auf eine gemeinsame Linie gegenüber Russland verständigt, die unter anderem Sanktionen in klar definierten Wirtschaftsbereichen beinhalten. Diese wurden zuletzt im Juni 2016 verlängert. Während Polen und die baltischen Staaten auf weitere Strafmaßnahmen drängen, setzen Deutschland und andere Mitgliedstaaten auf eine Mischung aus Konfrontation und Offenheit zur Kooperation. Dieses über viele Jahrzehnte des Kalten Kriegs erprobte Konzept deutscher Ostpolitik spiegelt sich auch in der Haltung gegenüber „Nord Stream 2“ und der Wahrnehmung des Erdgashandels als schützenswerter Brücke nach Moskau wider. Die unterschiedliche Bewertung der Notwendigkeit zum Erhalt von Spielräumen in der europäischen Außenpolitik gegenüber Russland zeigt sich anhand dieses Beispiels sehr deutlich.

Nord Stream 2 – Teil des Problems oder Teil der Lösung?

Bei der Bewertung der Frage nach den Folgen des Pipelinebaus für die europäische Gasversorgungssicherheit fällt die Analyse deutlich schwerer. Die zunehmende Integration des Gasmarktes in der EU sowie die Veränderungen im Gashandel, hin zu vermehrten Importen von Flüssiggas und einer Ausweitung von Spotmärkten haben das Gesamtbild in den vergangenen Jahren erheblich verändert. Die Überversorgung der Gasmärkte versetzt die EU derzeit in eine günstige Position als attraktiver Markt für Exporte. Als Konsequenz haben langfristige Lieferverträge tendenziell an Bedeutung verloren. Politische Erpressbarkeit durch Gaslieferungen erscheint in einem von europäischer Regulierung immer stärker durchdrungenen und zunehmend vernetzten Markt kaum mehr möglich. Vor diesem Hintergrund lassen sich nun zwei unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen: Denkbar erscheint einerseits die versorgungssicherheitspolitisch begründete gezielte Abkehr von russischen Lieferungen. Ein zunehmend flexibler globaler Gasmarkt könnte die entstehende Lücke füllen. Maßnahmen wären der gezielte Ausbau von Flüssiggas-Terminals sowie die Erweiterung des südlichen Korridors über die Türkei. Die Situation könnte andererseits aber auch dazu genutzt werden, ein breites Set an unterschiedlichen Importwegen unter Einbeziehung von Pipelinestrukturen nach Russland zu entwickeln, damit in Zukunft nicht nur eine Auswahl an Lieferanten, sondern auch Transitoptionen zur Verfügung stehen. Beide Sichtweisen werden derzeit dezidiert vertreten. Damit verbunden stellen sich aber auch noch weitere Fragen: Müssen Importinfrastrukturen auf dem Niveau der Nachfrage gehalten werden oder können sie deutlich über der zu erwartenden Nachfrage liegen, um so Verhandlungsspielraum und niedrigere Preise zu erwirken? Und lässt sich die Infrastrukturüberversorgung durch die Aussicht auf niedrigere Preise rechtfertigen? Stellt der Transit über die Ukraine auch ein Risiko für die EU dar, wenn keine ausreichenden Alternativen existieren? Und schließlich: Wie verlässlich sind alternative Lieferrouten vor dem Hintergrund anhaltender Spannungen in Nordafrika, einer unsicheren Zukunft der Türkei als potenziell wichtigem Transitland und einer ungewissen Zukunft der US-Schiefergasproduktion? Auch bei der Analyse dieser unterschiedlichen Aspekte wird deutlich, dass „Nord Stream 2“ unter verschiedenen Annahmen Teil des Problems oder Teil der Lösung sein kann.

Die entscheidende Frage für die Zukunft von „Nord Stream 2“ dürfte jedoch in den kommenden Jahren eine regulatorische und wettbewerbsrechtliche sein. Und sie wird von der rechtlichen Bewertung auf Seiten der EU-Kommission abhängen. Dabei wirken unterschiedliche Verfahren zusammen und können kaum losgelöst voneinander betrachtet werden: Zum einen führt die Generaldirektion Wettbewerb seit geraumer Zeit ein kartellrechtliches Verfahren gegen Gazprom wegen unlauterer Preismanipulationen in der Vergangenheit. Es drohen in diesem Zusammenhang empfindliche Geldstrafen und ein neuer Konflikt im Verhältnis EU-Russland. Zum anderen ist die rechtliche Anwendung des Dritten Binnenmarktpakets mit seinen strengen Entflechtungsregelungen und seinen Zugangsrechten für Drittparteien auf „Nord Stream 2“ ungeklärt. Der EU-Kommission wird es dabei aller Voraussicht nach um eine Paketlösung gehen, in der die Offenheit der Märkte in Mittel- und Osteuropa weiterhin gewährleistet werden kann, ohne dass die Gefahr einer eigenen Kompetenzüberschreitung im Rahmen der Regulierung droht, die letztlich vom Europäischen Gerichtshof einkassiert werden könnte. Eine delikate Abwägung, die auch durch die notwendige Befriedigung der Interessen aller Mitgliedstaaten nicht einfacher wird.

Die Anlandestation von Nord Stream 2 in Deutschland
Die Anlandestation von Nord Stream in Deutschland befindet sich am Energiestandort Lubminer Heide in der Nähe von Greifswald. Das 12 Hektar große Gelände umfasst auch die Übernahmestation der Nord Stream-Anschlussleitungen OPAL und NEL..

Der Fall „Nord Stream 2“ macht deutlich, wie stark Energiepolitik auch heute noch in außen-, sicherheits- und wirtschaftliche Interessen der EU-Mitgliedstaaten hineinwirkt und wie groß die Differenzen trotz der fortwährenden Bekenntnisse zur „Energieunion“ noch scheinen. Eine Lösung wird allerdings nicht nur vom Verhandlungsgeschick der Kommission abhängen, sondern auch Zugeständnisse der Befürworter im Rahmen der aktuellen Debatte über eine Neufassung der Gasversorgungssicherheitsverordnung bedingen. Denn nur ein Binnenmarktkonzept, das auf dem Prinzip von Solidarität und auf klaren Regeln zur gegenseitigen Unterstützung im Krisenfall durch seine zentralen Akteure basiert, wird in Zukunft unabhängig von einzelnen Infrastrukturprojekten ein hohes Maß an Sicherheit gewährleisten können.

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Anmerkung der Redaktion: Wer sich tiefer mit zentralen Entwicklungen deutscher und europäischer Energie- und Klimapolitik beschäftigen will, dem sei das jüngste Buch von Severin Fischer, „Die Energiewende und Europa“, Europäisierungsprozesse in der deutschen Energie- und Klimapolitik, wärmstens empfohlen.

 

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