Die französische Umwelt- und Energieministerin Ségolène Royal scheint um Superlative nicht verlegen zu sein. Das „ehrgeizigste Transformationsprogramm in der Europäischen Union“, so die ehemalige Präsidentschaftskandidatin, habe sich Frankreich mit seiner „Transition énergétique“, der französischen Form der Energiewende, vorgenommen.
Nicht nur das Erreichen umweltpolitischer Ziele, sondern vor allem die Entwicklung grüner Wachstumsimpulse finden sich als zentrale Argumentationsmuster in der Begründung für das Gesetzesvorhaben wieder. Nach einem breit angelegten und knapp zwei Jahre andauernden Konsultationsprozess mit Umweltverbänden, Industrie, Gewerkschaften und Energieunternehmen, nickte das französische Kabinett den Entwurf für das Gesetzesvorhaben Ende Juli ab. Von September an wird in den beiden parlamentarischen Kammern über die Vorlage verhandelt.
Ehrgeizige Ziel-Koordinaten
Obwohl ein zentraler Auslöser der französischen Energiedebatte im Wahlkampfversprechen des französischen Staatspräsidenten Francois Hollande zur Reduzierung des Anteils der Atomkraft an der französischen Stromerzeugung von knapp 75 auf 50% zu finden ist, weitete sich die Diskussion im Zuge des Konsultationsprozesses auf ein ganzes Koordinatensystem an Zielvorgaben aus. Emissionsminderungsziele in Höhe von 40% bis 2030 und 75% bis 2050, der Ausbau erneuerbarer Energien am Endenergieverbrauch auf 23% im Jahr 2020 und 32% in 2030 sowie die Halbierung des Energieverbrauchs bis 2050 dienen als Wegmarken für den Prozess. Gegenüber 2012 soll zudem der Verbrauch fossiler Brennstoffe um 30% bis 2030 gesenkt werden. Dieses Zielsystem steht fraglos in einer Linie mit den Planungen im Rahmen der deutschen Energiewende und einer Fortschreibung der EU-Strategie aus dem Jahr 2007. Ein spezifisches Ziel für den Anteil fossiler Brennstoffe geht dabei sogar über die Arithmetik anderer Szenarioplanungen europäischer Staaten hinaus.
Während die aufgelisteten systemischen Zielsetzungen einem weitgehenden Konsens in der französischen Politik entsprechen, wird dennoch eine Reihe von Kontroversen mit Blick auf die nachgeordneten Ziele und Maßnahmen deutlich.
Die Atomfrage
Auffällig ist zunächst, dass ein zentraler Ausgangspunkt des Prozesses – das Versprechen zu Reduzierung des Nuklearanteils – bewusst aus dem Rampenlicht genommen und durch eine Debatte über nachhaltiges Wachstum ersetzt wurde. Zwar findet sich noch immer die Zielsetzung einer Reduzierung des Atomanteils auf 50% im Gesetzestext, doch bereits die Inkohärenz mit Blick auf das Zieljahr 2025 (verglichen mit 2020, 2030, 2050 für andere Zielsetzungen) legt nahe, dass dies nicht einer energiewirtschaftlichen Modellierung ähnlich der deutschen Energiewendeplanungen entspricht, sondern als eigenständiger Verhandlungsgegenstand betrachtet wird. Neu ist die Nennung eines Kapazitätsplateaus für den Nuklearsektor, der laut Gesetzestext 63,2 GW betragen soll. Dies hätte zur Folge, dass bei Fertigstellung des EPR-Reaktors in Flamanville, ein anderes Kraftwerk vom Netz gehen müsste.
Obwohl lange Zeit eine unmittelbare Abschaltung des Kraftwerks im elsässischen Fessenheim nahe der deutschen Grenze vorgesehen war, nahm die Regierung von dieser Planung Abstand. Als zentrales Argument für diesen Schritt wurden von Energieministerin Royal die rechtlichen Probleme beim Eingriff in das Eigentum eines privaten Unternehmenskonsortiums genannt.
Der Umgang mit der französischen Nuklearindustrie bleibt dementsprechend die große Unbekannte in der energiepolitischen Planung der französischen Regierung. Ein Ausstieg aus der Technologie scheint innenpolitisch ebenso wenig vermittelbar zu sein, wie der Neubau von Anlagen und die Beibehaltung des überproportional hohen Anteils an der Stromerzeugung um 75%. Gerade gegen die beiden Konzerne Areva und EDF mit hoher staatlicher Beteiligung sowie deren gewerkschaftlich organisierte Belegschaft wäre ein Ausstiegsbeschluss politisch kaum durchsetzbar.
Konjunkturprogramm Energiewende
Während die strategische Planung im Stromsektor also weitgehend unbestimmt bleibt, formuliert die französische Regierung in ihrem Gesetzesvorschlag umfangreiche Investitionsprogramme im Verkehrs- und Wärmebereich. Neben einer finanziellen Unterstützung beim Erwerb von Elektrofahrzeugen in Höhe von 10.000 Euro pro Fahrzeug und einem Programm für den Ausbau von sieben Millionen Ladestationen, werden Grundzüge eines Gebäudesanierungsprogramms skizziert, durch das die bislang niedrige Renovierungsquote auf 500.000 Gebäude jährlich gesteigert werden soll. Gemeinsam mit der Unterstützung für den Ausbau erneuerbarer Energien und der Entwicklung von Modellregionen sind für die kommenden drei Jahre insgesamt zehn Milliarden Euro veranschlagt worden. Experten sind sich weitgehend einig, dass faktisch mit deutlich höheren Kosten zu rechnen ist, sollte eine Realisierung der Programme tatsächlich erfolgen.
Vor dem Hintergrund der angespannten fiskalischen Lage in Frankreich dürfte dies die größte Herausforderung für den nun anlaufenden parlamentarischen Prozess darstellen. Nicht nur innenpolitisch bedarf es massiver Überzeugungsarbeit, dass diese Investitionen tatsächlich zur Schaffung neuer Arbeitsplätze beitragen. Auch europapolitisch ist ein derart umfangreiches Finanzierungspaket mit Blick auf das absehbare Verfehlen der Verschuldungsgrenzen schwer vermittelbar. Die Hoffnung könnte darin bestehen, aufgrund der thematischen Ausrichtung immerhin bei der deutschen Bundesregierung auf offene Ohren zu stoßen.
Konflikte werden vermieden – es geht um die Botschaft
Für die bislang unglücklich verlaufene Präsidentschaft von Francois Hollande stellt die „transition énergétique“ das letzte politische Großprojekt seines Wahlkampfes dar, das nicht aufgrund konjunktureller oder innerparteilicher Probleme im Keim erstickt wurde. Die Ernennung von Ségolène Royal als Gesicht des Prozesses und als engagierte Vermarkterin dieses Symbols noch nicht verloren gegangener Handlungsfähigkeit steht hierfür stellvertretend. Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass es die französische Regierung wohlweislich vermieden hat, zentrale Konflikte anzusprechen, die für die französische Energiepolitik jedoch systeminhärent sind.
Eine zentrale Frage stellt sich mit Blick auf die Systemkosten und den Strompreis: Der regulierte Endverbraucherpreis deckt schon seit längerem nicht mehr die Kosten des Systems, geschweige denn die einer Systemtransformation. Dies gilt ebenso mit Blick auf den Ausbau der erneuerbaren Energien wie mit Blick auf die notwendigen Reparaturarbeiten an den französischen Atomkraftwerken. Geradezu paradox erscheint es vor diesem Hintergrund, dass eine angekündigte Strompreiserhöhung zum 1. August 2014 mit Verweis auf die unzumutbaren Kosten von der Regierung gestoppt wurde. Der Strompreis ist ein politisches Symbol in Frankreich und scheint entsprechend nicht für die Finanzierung der Transformation herangezogen werden zu können.
Dies hängt, zweitens, mit der Rolle des staatlichen Stromversorgers EdF zusammen, der durch die regierungsseitigen Maßnahme seinen Schuldenberg kontinuierlich erhöht. In diesem Kontext wird bewusst jede Maßnahme vermeiden, die dem Konzern weiteren finanziellen Schaden zufügen könnte (wozu fraglos auch die Abschaltung abgeschriebener Atomkraftwerke gehört). Die Rolle von EdF im Rahmen des Transformationsprojekts bleibt weiterhin unbestimmt, ist für die Umsetzung jedoch von entscheidender Bedeutung.
Drittens entwickelt sich innerhalb des französischen Systems eine zunehmende Diskrepanz zwischen dem Anspruch der energiepolitischen Transformation auf dezentraler Ebene, den Regionen und Gemeinden, auf der einen Seite und der zentralistischen Planungstradition Frankreichs auf der anderen Seite. Dieser schwelende Konflikt zwischen zwei parallelen, gleichzeitig aber weitgehend voneinander isolierten Systemen wird nicht bearbeitet, sondern durch Finanz- und Kompetenzzuweisungen an die regionalen Gebietskörperschaften befriedigt, ohne dabei gleichzeitig Anpassungen am Zentralsystem (siehe Atomfrage) vorzunehmen. Die so entstehenden Konflikte werden sich absehbar zuspitzen und letztlich vor allem aufgrund der finanziellen Zwänge im Staatshaushalts und der industriellen Anspruchshaltung des politischen Systems Frankreichs zu Lasten der regionalen Akteure aufgelöst werden. Die Folgen für die innenpolitische Wahrnehmung staatlicher Energiepolitik dürften absehbar desaströs ausfallen und ließen sich kaum durch die zahlreichen neuen Instrumente bürgerschaftlicher Partizipation auffangen.
Für den politischen Prozess rund um eine zügige Umsetzung der „transition énergétique“ erscheint die Umschiffung der genannten Konflikte zunächst hilfreich. Eine nachhaltige Lösung der politischen Problemlage stellt sie freilich nicht dar. Sollte es jedoch im Kern nicht um eine Transformation des französischen Systems gehen, sondern um die Präsentation politischer Handlungsfähigkeit, so könnte die Regierung durchaus erfolgreich sein. Zudem steht mit dem Klimagipfel 2015 in Paris ein weiteres Großereignis bevor, bei dem sich das Gastgeberland positiv präsentieren möchte. Dies dürfte mit der Verabschiedung des „ehrgeizigsten Transformationsprogramms in der Europäischen Union“ tatsächlich gelingen.
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Redaktionelle Links zum Thema
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Severin Fischer im Interview
Ein Hintergrund zur Energiewende à la francaise
Update 13.10.2014: Severin Fischer hat seine Analyse in einem längeren Paper veröffentlicht: Frankreichs energiepolitische Reformagenda;
Grüne Wachstumsimpulse und strategische Ambivalenzen.
Dominik Pöschel
vor 10 JahrenDas ist ein bisschen von allem dabei was die Französische Regierung hier plant. Der Präsident will halt nicht nur Dinge versprochen haben und gar nix halten. Dies ist keine Energiewende in Sinne wie Sie hier bei uns im Land durchgeführt wird. Ziel in Deutschland ist die Nachhaltige Wirkung für unsere Umwelt und unseren Geldbeutel durch den Wechsel der Art wie man Strom erzeugt. Riesige Probleme werden die Franzosen haben wenn hier in ferner Zukunft ein Systemwechsel der Stromerzeugung durchgeführt wird. Unsere Energiewirtschaft kommt auch aus einer Monopolstellung. Durch die Auflösung dieser und der in Frankreich vorliegenden Gegebenheiten wird das ein hartes Stück arbeit. Die Gewerkschaften werden Sturm laufen und wer soll die Folgekosten tragen. Ich hoffe nicht das am Ende die EU das ganze finanziert. Man sollte die Energieversorgung Europäisch betrachten und Sie Europäisch lösen. Wir haben die EU und sollten bei solchen Entscheidungen auch zur EU stehen damit meine ich alle Länder!!!!
Reiner Heußner
vor 10 JahrenInteressant zu lesen, dass der Strompreis in Frankreich ein politischer ist, der noch nicht einmal die laufenden Kosten, geschweige denn die für den Rückbau und die Endlagerung deckt.
Bei unseren Nachbarn sind drei Mal so viele Atom-Reaktoren am Netz als bei uns. Die Kosten für den Rückbau und die Endlagerung dürften die bei uns bei weitem übersteigen. Die Rückstellungen sind mit 17,9 Milliarden Euro für 58 Atomkraftwerke allerdings wesentlich geringer als die in Deutschland, wo 36 Mrd. zur Verfügung stehen. (s. dazu Artikel in der TAZ www.taz.de/!104447/ und in der FAZ http://www.faz.net/aktuell/politik/energiepolitik/frankreich-atomstrom-gar-nicht-so-guenstig-1621004.html)
Die EU-Kommission hat Deutschland wegen möglicher Wettbewerbsverzerrungen bei den Erneuerbaren und Nachlässen bei der EEG-Umlagen mit einem Verfahren gedroht und in Verhandlungen Einfluss auf das EEG genommen. Auf dem franzöischen Strommarkt gibt es keinerlei echten Wettbewerb. Davon nimmt die EU-Wettbewerbskommission offenbar keinerlei Notiz.