Die Ampel-Koalition hat im Juli 2024 die Einführung eines Kapazitätsmarktes (KM) bis 2028 angekündigt, um Investitionssicherheit für notwendige steuerbare Kapazitäten und Flexibilitäten zu schaffen. Das vom BMWK präferierte Modell, der sog. Kombinierte Kapazitätsmarkt (KKM), soll die Vorteile eines zentralen KM und dezentralen KM vereinen:
- Investitionssicherheit für kapitalintensive Investitionen durch zentrale Ausschreibungen im sog. „KKM-Z“;
- Technologieoffenheit durch eine optimale Einbindung flexibler Nachfrager und Speicher im dezentralen Segment, dem sog. „KKM-D“;
- Optimaler Umgang mit Unsicherheiten bei der Dimensionierung der Kapazität durch Nutzung dezentralen Wissens;
- Geringere Umlage zur Finanzierung der Kosten.
Erhoffte Vorteile des KKM in der Praxis nicht zu erwarten
Die Hoffnung auf eine effizientere Dimensionierung der Kapazität durch Nutzung dezentralen Wissens hält einem Realitätscheck nicht stand.
Unsere Analysen im Auftrag der EnBW AG und RWE AG kommen zu folgenden Schlüssen:
- Eine bessere Einbindung von Flexibilitäten ist unwahrscheinlich: Das BMWK setzt darauf, dass die „Selbsterfüllung“, d.h. die Reduzierung der Nachfrage in Knappheitszeiten, besser geeignet ist, Flexibilitäten einzubinden als zentrale Modelle. Die Erfahrungen aus dezentralen Kapazitätsmarkt in Frankreich zeigen allerdings, dass erst die Einführung zentraler Elemente zu einem Anstieg des Kapazitätsbeitrags von Flexibilitäten geführt hat. Aus den kurzfristigen und erratischen Preissignalen des KKM-D sind keine planbaren Erlösströme zu erwarten, jedoch zur Erschließung von Flexibilität in vielen Fällen erforderlich. Investive Maßnahmen sind so unwahrscheinlich.
- Die Hoffnung auf eine effizientere Dimensionierung der Kapazität durch Nutzung dezentralen Wissens hält einem Realitätscheck nicht stand: Auch im KKM-D sind die Entscheidungen der Akteure stark von zentral festzulegenden Parametern beeinflusst. Hierzu gehören z. B. der Umfang der vorzuhaltenden Kapazität, Fristen für den Nachweis von Zertifikaten, die Definition der Knappheitsstunden und die Höhe der Pönale. Durch die Festlegung dieser Parameter bestimmt die verantwortliche zentrale Institution, in welchem Ausmaß die dezentrale Verpflichtung einen Zusatzanreiz zur Vorhaltung von Kapazität entfaltet. Die Prüfung der tatsächlichen Verfügbarkeit der Kapazitäten in kritischen Situationen und der Zugriff (z.B. im Fall drohender Nichterfüllung) ist indirekter als in einem zentralen KM. So besteht durch mögliche Parametrierungsfehler ein Risiko von teurer „Überkapazität“ oder versorgungssicherheitsgefährdender „Unterkapazität“.
- Im KKM müssen nur die Kosten der zentralen Ausschreibung über eine Umlage finanziert werden. Sie fällt so geringer aus als in einem zentralen KM. Die Belastungen für Endverbrauchende sind deswegen aber nicht geringer. Der verbleibende Teil der Kosten muss über die im KKM-D zur Kapazitätsvorhaltung verpflichteten Unternehmen finanziert werden und wird über die Stromrechnungen an die Endkunden weitergegeben. Eine solche versteckte Kostenallokation mag polit-strategisch attraktiv sein, eine valide ökonomische Argumentation liegt aber nicht vor.

Quelle: Frontier Economics
Integration von Flexibilität kann über Kombination von Anreizen im Energiemarkt und zentralen Kapazitätsmechanismen erreicht werden
In der EU gibt es bereits jahrelange Erfahrung mit Kapazitätsmärkten. Diese zeigen:
- Bereits der Energy-Only Markt ist in der Lage, bestimmte Flexibilitätspotenziale zu heben, wenn Energiepreise ihre Lenkungswirkungen entfalten können.
- Zentrale Mechanismen könne bei Implementierung geeigneter Maßnahmen mindestens so viel Flexibilität erschließen wie dezentrale Mechanismen (siehe Beispiel Frankreich).
Hohe Komplexität des KKM birgt substanzielle Risiken
Das Vertrauen, dass sich die staatliche Stelle marktrational verhält und frei von teilweise erratischen politischen Einflüssen bleibt, dürfte gering sein.
Die Kombination von zentralem und dezentralem Segment birgt zudem substanzielle Risiken:
Hoher administrativer Zusatzaufwand
Um das Mengen- und Preisrisiko durch den Handel mit Zertifikaten zu managen, sind zusätzliche Kompetenzen erforderlich, die über das bisherige Bilanzkreismanagement hinausgehen. Dieses verlangt ohnehin viertelstündlich eine ausgeglichene Energiebilanz, um die Zahlung von teurer Ausgleichsenergie zu vermeiden und setzt so einen Anreize für die Einbindung von Flexibilität.
Keine verlässlichen Preissignale durch KKM-D
Die jährliche Entscheidung über die Höhe der im KKM-Z langfristig beschafften festgelegten Neubaubedarfsmengen hat große Rückwirkungen auf die Preise im Energiemarkt und den Zertifikatspreisen im KKM-D. Wird ein hoher Kapazitätswert angesetzt, könnte der Zertifikatspreis im KKM-D nahe Null liegen. Wird ein geringer Kapazitätswert angesetzt, könnten im KKM-D Preisspitzen bis zu den Kosten von den kurzfristig realisierbaren Backstop-Technologien (z.B. teure Produktionsunterbrechungen) bzw. der Pönale steigen. Die Lenkungswirkungen solcher Preisschwankungen wären gering.
Erhöhte Systemkosten durch mögliches Auseinanderfallen von Systemknappheit und Hochlastzeitfenstern
Während in einem System ohne dezentrale Kapazitätsverpflichtungen allein die Knappheitspreise am Spotmarkt über eine Nachfragesteuerung wie z.B. eine Lastreduktion entscheiden, erhöht das zusätzliche Preissignal aus dem KKM die Komplexität der Lenkungsentscheidung. Fallen die tatsächlichen Höchstlastzeitpunkte und die für die KKM-D-Verpflichtung relevanten Hochlastzeitfenster auseinander, erfolgt eine ineffiziente Optimierung gegen die Nachweisverpflichtung im KKM.
Vertrauen in die Preisbildung im KKM-D durch große staatliche Rolle gering
Die staatliche Institution wird im Laufe der Zeit einen wachsenden Anteil der Gesamtzertifikate im KKM-D anbieten. So werden in den zentralen Auktionen beschaffte Kapazitäten als auch nicht teilnahmeberechtigte Kapazitäten (z. B. aus dem KWSG) staatlich vermarktet. Das Vertrauen, dass sich die staatliche Stelle marktrational verhält und frei von teilweise erratischen politischen Einflüssen bleibt, dürfte gering sein.
Beihilferechtliche Notifizierung des KKM langwierig und mit offenem Ausgang
Erfahrungen aus den Genehmigungsprozessen bereits existierender europäischer KM zeigen, dass die Verhandlungen mit der EU-Kommission für eine beihilferechtliche Genehmigung langwierig sind. Es ist davon auszugehen, dass die Prüfung des KKM aufgrund fehlender „Blaupausen“ und vieler offener Detailfragen komplexer und zeitintensiver sein könnte als bisherige Verfahren.
Priorität für neue Bundesregierung: Zeitnahe zentrale Kapazitätsauktionen
Mit dem Ende der Ampel-Koalition sind die Arbeiten am zukünftigen Strommarktdesign einschließlich der Ausgestaltung eines Kapazitätsmarktes ins Stocken geraten. Um einen zügigen Ausstieg aus der Kohleverstromung unter Wahrung der Versorgungssicherheit zu ermöglichen, muss eine neue Bundesregierung die Einführung eines Kapazitätsmarktes mit hoher Priorität vorantreiben. Vor dem Hintergrund unserer Analysen erscheint ein Vorgehen sinnvoll, bei dem
- weiterhin auf Lenkungssignale aus dem Energiemarkt gesetzt wird. Der Energiemarkt muss weiter befähigt sein, Knappheiten in Strompreisen zu signalisieren.
- zentrale Ausschreibungen genutzt werden, um den Zubau/Erhalt von Erzeugungskapazität wie auch Nachfrageflexibilität und Speicher anzureizen. Dies erfordert ein geeignetes und differenziertes Design von Kapazitätsprodukten. Zudem sollten in einer langfristigen Auktion mit Vorlaufzeiten von vier bis sechs Jahren nur ein Teil des Kapazitätsbedarfs ausgeschrieben werden, um Raum für Flexibilitäten in kurzfristigen Auktionen zu lassen.
- erwogen wird, die Umlage zur Finanzierung der zentralen Ausschreibungen zu dynamisieren und am Beitrag der Verbrauchenden zur Spitzenlast zu orientieren.
Autoren des Beitrags
Dr. Christoph Riechmann
Director im Energiebereich von Frontier, Büroleiter in Berlin und Köln

Dr. Christoph Riechmann leitet das Kölner und Berliner Büro von Frontier Economics und ist für Projekte im deutschsprachigen Raum verantwortlich. Er ist zudem als Direktor im Energiebereich tätig und berät seit über 25 Jahren Klienten in Nordwesteuropa in wettbewerbs- und regulierungspolitischen sowie strategischen Fragen.
Er hat an der Universität zu Köln in Volkswirtschaftslehre promoviert und besitzt Studienabschlüsse als Diplom-Ökonom (Universität Gießen) und MSc (Econ) (Glasgow University).
Vor seiner Zeit bei Frontier Economics war Christoph Riechmann bis 1999 am Energiewirtschaftlichen Institut der Universität zu Köln in der Beratung und Forschung zur Reform und Restrukturierung von Netzindustrien tätig. Mit seinen Arbeiten hat er wesentliche Beiträge zur Reform der Strom- und Gasmärkte in Deutschland geleistet. Christoph Riechmann hat vielfach zu den entsprechenden Themen publiziert.
Dr. Jens Perner
Director in den Büros in Köln und Berlin

Dr. Jens Perner ist ein Director im Kölner Büro. Er verfügt über rund 20 Jahre Erfahrung im Energiesektor und berät Kunden in West- und Mitteleuropa zu energiewirtschaftlichen, regulatorischen, strategischen sowie wettbewerbspolitischen Fragen.
Er hat an der Universität zu Köln in Volkswirtschaftslehre promoviert und an der Universität Hannover einen Abschluss als Diplom-Volkswirt erworben.
Vor seinem Eintritt bei Frontier im November 2006 war er vier Jahre in der Konzernentwicklung der RWE AG, Essen, tätig, zuletzt als Leiter der Abteilung Strategische Marktanalysen. Vor seiner Zeit bei RWE war Jens Perner am Energiewirtschaftlichen Institut der Universität Köln in der Beratung und Forschung tätig.
Dr. David Bothe
Director, Büro Köln

Dr. David Bothe ist ein Director im Kölner Büro von Frontier und verfügt über mehr als 15 Jahre Erfahrung als ökonomischer Berater in der Energiewirtschaft. Er berät Unternehmen, Verbände und Behörden in West- und Mitteleuropa zu energiewirtschaftlichen, regulatorischen, strategischen sowie wettbewerbspolitischen Fragen.
Als ausgewiesener Gasmarktexperte beschäftigt er sich in Projekten für Behörden, Gasnetzbetreiber, Speicherbetreiber, Händler und Weiterverteiler seit über 15 Jahren mit der Entwicklung des europäischen Gasmarktes, dem Regulierungsrahmen und Versorgungssicherheit. Er ist regelmäßig als Sachverständiger für den Gasmarkt in Schiedsverfahren tätig.
Vor seinem Wechsel zu Frontier im Jahr 2009 war er als Leiter des Bereichs Gasmarktanalyse am Energiewirtschaftlichen Institut (EWI) in Köln in der Forschung und Beratung tätig. David Bothe lehrte Energie- und Umweltökonomik und promovierte an der Universität zu Köln.
Dr. Matthias Janssen
Associate Director, Büro Köln

Dr. Matthias Janssen ist seit 2011 bei Frontier und Associate Director im Kölner Büro. Seit mehr als 12 Jahren berät er regelmäßig führende Marktakteure und öffentliche Institutionen zu Fragen von Marktdesign, Regulierung, Klimapolitik, privatwirtschaftlichen Vertrags-auseinandersetzungen (Litigation) und Due Diligence, mit einem Schwerpunkt auf Strom- und Gasmärkten. Er leitete verschiedene Projekte zum zukünftigen Zusammenspiel der Gas- und Strommärkte in Europa.
Er hat an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster (Deutschland) in Volkswirtschaftslehre promoviert und ist Diplom-Volkswirt.
Zuvor arbeitete Matthias Janssen 4 Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Volkswirtschaftstheorie an der Universität Münster.
Christoph Nodop
Consultant in den Büros in Köln, Brüssel und Berlin

Christoph Nodop arbeitet seit 2018 als Consultant in den Frontier Büros in Köln, Brüssel und Berlin. Christoph ist Ökonom und Experte für europäische und deutsche Energie- und Klimapolitik und hat in zahlreichen Projekten zu Fragen der Dekarbonisierung im Strom-, Wärme- und Verkehrssektor gearbeitet. Insbesondere hat Christoph Kund:innen zuletzt bei konzeptionellen Fragestellungen zum europäischen, deutschen und österreichischen Strommarktdesign beraten. Darüber hinaus verfügt er über umfangreiche Erfahrung in quantitativen Strommarktsimulationen und -analysen.
Bevor Christoph zu Frontier kam, absolvierte er ein Masterstudium in European Economics mit der Spezialisierung European Public Policy Analysis am College of Europe in Brügge sowie ein weiteres Masterstudium in Economics an der Universität zu Köln.
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