Kraftwerksstrategie: der Neustart als Chance

Dr. Wolf-Peter Schill und Prof. Dr. Claudia Kemfert

Gastautor:innen

Dr. Wolf-Peter Schill leitet in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin den Forschungsbereich „Transformation der Energiewirtschaft“. Nach einem Studium des Technischen Umweltschutz (Dipl.-Ing.) an der TU Berlin und der Macquarie University Sydney promovierte er als Energieökonom an der TU Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien, Energiespeicher, Elektromobilität, grüner Wasserstoff und andere Optionen der Sektorenkopplung. Methodischer Schwerpunkt seiner Arbeiten ist die quelloffene Stromsektormodellierung. Am DIW Berlin arbeitet er im Rahmen diverser Forschungsprojekte, finanziert unter anderem von verschiedenen Bundesministerien und der Europäischen Kommission. Dabei entstand eine Vielzahl von Fachartikeln u.a. in Nature Energy, Joule, European Economic Review, Communications Earth and Environment und anderen führenden Fachjournals. Er ist aktives Mitglied des Akademienprojekts Energiesysteme der Zukunft (ESYS), Mitentwickler des Open Energy Trackers und Host des Podcasts fossilfrei. Prof. Dr. Claudia Kemfert leitet seit April 2004 die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist seit April 2009 Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance (HSoG). Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Spitzenforscherin und gefragte Expertin für Politik und Medien. Zuletzt erhielt sie den Deutschen Solarpreis sowie den Adam-Smith-Preis für Marktwirtschaftliche Umweltpolitik. Ihr neustes Buch „Das fossile Imperium schlägt zurück – Warum wir die Energiewende verteidigen müssen“ erschien im April 2017.

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23. Januar 2025
Bild: Shutterstock.com/petrmalinak

Erneuerbare übernehmen die Energieversorgung

Der Ausbau der erneuerbaren Energien hat in Deutschland zuletzt Fahrt aufgenommen. Bis zum Jahr 2030 sollen sie mindestens 80 Prozent der Stromversorgung abdecken. Diversen Energieszenarien zufolge ist ein beschleunigter weiterer Ausbau der erneuerbaren Energien und ihre verstärkte Nutzung in den Sektoren Mobilität, Wärme und Industrie ein wesentlicher Baustein, um das Ziel der Klimaneutralität bis zum Jahr 2045 zu erreichen. Dabei spielen die Windkraft und die Solarenergie eine besonders wichtige Rolle. Ihre Stromerzeugungskosten sind in den letzten Jahren deutlich gesunken, und sie haben noch sehr große Ausbaupotenziale. Daher werden sie im Jahresmittel schon bald den größten Teil der Stromnachfrage decken können.

Windkraft und Solarenergie brauchen eine Absicherung

Insbesondere Braun- und Steinkohlekraftwerke sollten aus Klimaschutzgründen ohnehin zeitnah vom Netz gehen.

Dr. Wolf-Peter Schill und Prof. Dr. Claudia Kemfert

Allerdings schwankt die Stromerzeugung aus Windkraft- und Solaranlagen stark. Mit ihrem weiteren Ausbau kommt es zunehmend dazu, dass das Stromangebot die Nachfrage in einzelnen Stunden übersteigt; umgekehrt ist die Stromerzeugung in anderen Stunden nach wie vor deutlich zu gering, um die Nachfrage zu decken. Dies war zuletzt beispielsweise in einigen Stunden im November und Dezember 2024 zu beobachten. Es kann aber auch zu längeren Zeiträumen kommen, in denen die Stromerzeugung aus Windkraft und Solarenergie deutlich unter der Stromnachfrage liegt. Derartige Ereignisse werden auch als „Dunkelflaute“ bezeichnet, wobei es bisher keine einheitliche Definition und Messung solcher Ereignisse gibt. Eine besonders ausgeprägte europäische Dunkelflaute gab es im Winter 1996/97.

Phasen niedriger Verfügbarkeit erneuerbarer Energien wurden bisher mit regelbaren Kraftwerken überbrückt. Dazu gehören auch alte Kohle- und Gaskraftwerke, die noch schon einige Jahrzehnte alt sind. Die Stromproduktion aus diesen Kraftwerken nimmt im Zeitverlauf aber immer weiter ab, da sie durch den Ausbau der erneuerbaren Energien immer weniger im Einsatz sind und sich zudem steigenden CO2-Preisen ausgesetzt sehen. Insbesondere Braun- und Steinkohlekraftwerke sollten aus Klimaschutzgründen ohnehin zeitnah vom Netz gehen. Hierfür hatte die Ampel-Koalition das Jahr 2030 anvisiert.

Kraftwerksstrategie der Ampel-Regierung

Gesucht wird daher eine Lösung zur Absicherung der Stromversorgung in kritischen Stunden, in denen Wind und Sonne nicht genügend Strom liefern. Hierfür hat die Ampel-Regierung nach langer Diskussion und mehreren Überarbeitungs-Schleifen im Sommer 2024 eine Kraftwerksstrategie vorgelegt. Diese sollte in Form des sogenannten Kraftwerkssicherheitsgesetzes umgesetzt werden. Es besteht aus drei „Säulen“.

Die erste Säule umfasst die zeitnahe Ausschreibung von insgesamt 8 GW Stromerzeugungsleistung, die im Rahmen der EU-Beihilfeleitlinien als Dekarbonisierungsmaßnahme benannt werden. Darunter sind 5 GW Neubauten und 2 GW Umrüstungen von so genannten „H2-ready“-Erdgaskraftwerken, die spätestens ab dem 8. Jahr ihrer Inbetriebnahme vollständig auf Wasserstoff umgestellt werden sollen. Hinzu kommen 0,5 GW reine Wasserstoff-Kraftwerke sowie 0,5 GW Langfristspeicher. Eine zweite Säule, die als reine Versorgungssicherheitsmaßnahme angemeldet wird, umfasst weitere 5 GW an reinen Gaskraftwerken. Als dritte Säule soll ab dem Jahr 2028 ein umfassender Kapazitätsmechanismus im Einsatz sein, mit dem dauerhaft die Vorhaltung ausreichender steuerbarer Leistung organisiert werden soll. Hierbei hat das BMWK hat eine Präferenz für einen hybriden Kapazitätsmarkt mit zentralen und dezentralen Elementen erkennen lassen. Aus der Energiebranche kommen dagegen viele Stimmen, die einen rein zentralen Kapazitätsmarkt favorisieren.

Nach dem Ende der Ampel-Koalition wird das Kraftwerkssicherheitsgesetz in seiner geplanten Form nicht mehr in Kraft treten. Vielmehr dürfte könnte der Prozess in der nächsten Legislaturperiode teilweise oder gar ganz neu aufgerollt werden.

Neustart bietet Chance für Verbesserungen

Einerseits ist diese Zeitverzögerung nicht begrüßenswert. Die Absicherung der fluktuierenden erneuerbaren Energien durch steuerbare Leistung wird immer wichtiger und ist auch für den Energiewende-Diskurs rund um den angestrebten Kohleaussteig im Jahr 2030 relevant. Andererseits eröffnet sich aber nun die Chance, einige Elemente der Kraftwerksstrategie zu überdenken und so anzupassen, dass sie besser zur klimaneutralen Transformation des Stromsystems passen. Dies betrifft alle drei „Säulen“.

Wenn von Anfang an ein Gesamtpaket aus Elektrolyse, Wasserstoff-Speicherung und Rückverstromung gefördert würde, wäre sichergestellt, dass Wasserstoff vor Ort für die Rückverstromung bereitsteht.

Dr. Wolf-Peter Schill und Prof. Dr. Claudia Kemfert

Erste Säule: Fokus auf Wasserstoff statt H2-Readiness

Wasserstoff-Gaskraftwerke sind nach heutigem Kenntnisstand eine plausible Technologie zur Stromerzeugung in längeren Perioden mit wenig Wind- und Solarenergie. Daher erscheint ein geförderter Einstieg in diese Technologie sinnvoll, mit Ausschreibungen sowohl für den Neubau als auch die Umrüstung bestehender Gaskraftwerke. Der Fokus sollte dabei aber weniger auf der „H2-Readiness“ liegen, sondern stärker auf der tatsächlichen, zeitnahen Nutzung von Wasserstoffanteilen. Dies ließe sich durch ein stärkeres Gewicht in den Ausschreibungen auf reine „Wasserstoff-Sprinter“ sowie insbesondere auf Wasserstoff-basierte Langfristspeicher erreichen. Energiesystemanalysen zeigen, dass letztere ein essenzieller Bestandteil einer auf erneuerbaren Energien basierenden Stromversorgung sind. Zudem adressieren sie auch das Problem, dass die Versorgung künftiger Kraftwerke mit Wasserstoff aus heutiger Sicht unsicher ist. Wenn von Anfang an ein Gesamtpaket aus Elektrolyse, Wasserstoff-Speicherung und Rückverstromung gefördert würde, wäre sichergestellt, dass Wasserstoff vor Ort für die Rückverstromung bereitsteht. Statt nur 0,5 GW von insgesamt 13 GW (rund 4 Prozent) sollten solche Langfristspeicher einen deutlich größeren Anteil der geplanten Ausschreibungen ausmachen.

Zweite Säule: Batterien und andere Flexibilitätstechnologien statt neue Gaskraftwerke

Ein geförderter Neubau von reinen Gaskraftwerken, die nicht einmal H2-ready sind, passt nicht zu einem Stromsystem, das voraussichtlich bis Mitte der 2030er Jahre schon weitgehend klimaneutral sein soll. Stattdessen sollten entschiedene Maßnahmen für die Aktivierung verschiedener Flexibilitäten im Stromsystem ergriffen werden. Dazu gehören Erleichterungen beim Netzanschluss und Betrieb großer Batteriespeicher, die bereits heute eine kostengünstige Möglichkeit für die Überbrückung kurzfristiger Knappheitssituationen im Stromnetz bieten. Weitere Flexibilisierungsmöglichkeiten gibt es bei der Stromerzeugung aus Bioenergieanlagen und der Kraft-Wärme-Kopplung. Dies kann beispielsweise über Biogas- oder Wärmespeicher erreicht werden. Hinzu kommt eine Fülle weiterer nachfrageseitiger Flexibilitätspotenziale.

Dritte Säule: Versorgungssicherheitsreserve statt zentralem Kapazitätsmarkt

Statt eines zentralen Kapazitätsmarkts, wie er derzeit von vielen Akteuren der Energiewirtschaft gefordert wird, sollte die Einführung einer weiterentwickelten Versorgungssicherheitsreserve erwogen werden. In ihr würden außerhalb des Strommarkts Kapazitäten vorgehalten, die bei einem moderat hohen Strompreis von beispielsweise 500 Euro/MWh aktiviert würden. Dann würde es im Vergleich zu einem zentralen Kapazitätsmarkt zu größeren Preisspreizungen im Großhandelsmarkt kommen. Dies würde stärkere Anreize geben, in diverse Arten von Produkt- und Wärmespeichern zu investieren, mit denen die Stromnachfrage in der Industrie und in der Fernwärmeversorgung flexibilisiert werden könnte. Gleichzeitig wäre der Strommarkt gegen Extremereignisse abgesichert und die Preise im Strommarkt wären nach oben gedeckelt. In die Reserve könnten alle bestehenden Gaskraftwerke aufgenommen werden, die ansonsten aus dem Strommarkt ausscheiden würden. Dies würde den bisher geplanten Neubau reiner Gaskraftwerke (2. Säule) noch weniger erforderlich machen.

Fazit: Versorgungssicherheit mit Blick auf 100% erneuerbare Energien denken

Alle Maßnahmen zur Wahrung der Versorgungssicherheit im Stromsystem sollten von Anfang an so ausgestaltet sein, dass sie zur laufenden und aus Klimaschutzgründen notwendigen Transformation des Energiesystem passen und mit 100% erneuerbaren Energien kompatibel sind. Demnach sollten keine neuen Investitionen in rein fossile Kraftwerke mehr gefördert werden. Stattdessen sollte von Anfang an auf die Technologien gesetzt werden, die nach heutigem Kenntnisstand für eine vollständig erneuerbare Energieversorgung unverzichtbar sind. Dazu gehören insbesondere Batteriespeicher, die schnell einen Beitrag zur Überbrückung kurzfristiger Engpässe leisten können, sowie perspektivisch Wasserstoff-basierte Langfristspeicher. Der Regierungswechsel bietet nun die Chance, die Kraftwerksstrategie mit dieser Perspektive zu überarbeiten.

Über die Autor:innen

Dr. Wolf-Peter Schill

Leiter Forschungsbereich „Transformation der Energiewirtschaft“ - Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin

Dr. Wolf-Peter Schill leitet in der Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am DIW Berlin den Forschungsbereich „Transformation der Energiewirtschaft“. Nach einem Studium des Technischen Umweltschutz (Dipl.-Ing.) an der TU Berlin und der Macquarie University Sydney promovierte er als Energieökonom an der TU Berlin. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien, Energiespeicher, Elektromobilität, grüner Wasserstoff und andere Optionen der Sektorenkopplung. Methodischer Schwerpunkt seiner Arbeiten ist die quelloffene Stromsektormodellierung. Am DIW Berlin arbeitet er im Rahmen diverser Forschungsprojekte, finanziert unter anderem von verschiedenen Bundesministerien und der Europäischen Kommission. Dabei entstand eine Vielzahl von Fachartikeln u.a. in Nature Energy, Joule, European Economic Review, Communications Earth and Environment und anderen führenden Fachjournals. Er ist aktives Mitglied des Akademienprojekts Energiesysteme der Zukunft (ESYS), Mitentwickler des Open Energy Trackers und Host des Podcasts fossilfrei.

Prof. Dr. Claudia Kemfert

Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung Berlin

Prof. Dr. Claudia Kemfert leitet seit April 2004 die Abteilung Energie, Verkehr, Umwelt am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW Berlin) und ist seit April 2009 Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit an der Hertie School of Governance (HSoG). Sie ist eine mehrfach ausgezeichnete Spitzenforscherin und gefragte Expertin für Politik und Medien. Zuletzt erhielt sie den Deutschen Solarpreis sowie den Adam-Smith-Preis für Marktwirtschaftliche Umweltpolitik. Ihr neustes Buch „Das fossile Imperium schlägt zurück – Warum wir die Energiewende verteidigen müssen“ erschien im April 2017.

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